Stadt: Moulin d'Andé (Normandie, Frankreich)

Frist: 2014-04-06

Beginn: 2014-09-10

Ende: 2014-09-12

URL: http://www.ciera.fr/ciera/exemple-exemplarite-beispiel

Deutsch-französisches Forschungsatelier des CIERA
In Kooperation mit der Freien Universität Berlin

Das Beispiel ist eine im intellektuellen und sozialen Leben allgegenwärtige Figur. In seiner Eigenschaft als Instrument der Argumentation und der Kommunikation, als Text-Gattung und Modell (oder Anti-Modell) der Handlung, wird es in sehr verschiedenen Situationen und Zusammenhängen eingesetzt. Trotzdem bleibt es schwer zu definieren. Wie kann man der Frage nach der epistemologischen Bedeutung des Beispiels nachgehen, ohne dabei auf Beispiele zurückzugreifen? Welche Beziehung stellt das Beispiel zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen her?
Das Forschungsatelier setzt sich zum Ziel, das Beispiel von den Sozial- und Geisteswissenschaften aus zu hinterfragen und zwar unter Berücksichtigung der verschiedenartigen Formen und Gebräuche, unter denen es in den jeweiligen Disziplinen in Erscheinung tritt. Ohne den Anspruch zu erheben, eine allgemeingültige Definition zu suchen, oder, bescheidener gesagt, Elemente einer Definition zu erstellen, nimmt sich das Forschungsatelier vor, Verwendungen, Funktionen und Funktionsweisen des Beispiels einzukreisen, um ein besseres Verständnis der Logiken herauszuarbeiten, die der Praxis der Beispielgebung und den verschiedenen Anwendungsformen des Beispiels eigen sind.
Dabei kristallisieren sich zwei Themenkomplexe heraus, die auf die zwei grundlegenden Dimensionen der aufgeworfenen Frage verweisen: die kognitive und die normative Funktion.

Die kognitive Dimension
Auf der kognitiven Ebene vollführt das Beispiel eine Hin- und Herbewegung zwischen einer allgemeinen Aussage (oder einem Begriff) und einer Realität oder einem Zusammenhang, die konkret, beobachtbar und meistens empirischer Natur sind. Es wird dabei zur Veranschaulichung, zur Demonstration, manchmal als Beweis herangezogen. Die Veranschaulichung ergibt sich dabei aus der angenommenen Übereinstimmung zwischen der allgemeinen Aussage und den empirischen Merkmalen. Insofern das Beispiel auf einer empirischen Realität aufbaut – sei sie nun gegenwärtig oder überliefert – macht es die These, die es veranschaulichen soll, greifbar und allgemein plausibel. Auf der logischen Ebene verfährt es in dieser Funktion eher nach dem Prinzip der Deduktion. Dazu kommt, dass es hier meist als Plural zu denken ist: Die Aussage – oder der Begriff – lassen sich nämlich durch mehrere mögliche Beispiele erhellen, von denen dann eines mit der Formel „zum Beispiel x oder y“ ausgewählt wird.
Die demonstrative Funktion des Beispiels ist schon komplexer, denn sie verleiht dem Beispiel eine stärkere Erklärungskraft als die der einfachen Veranschaulichung. Diese Form der Beispielgebung setzt eine fundiertere Argumentation in der Entsprechung von These und Beispiel voraus. Sie muss möglichen Gegenbeispielen vorgreifen, die die Aussage entkräften könnten. Sie muss zudem in aller Deutlichkeit die Wahl der Merkmale des herangezogenen Beispiels rechtfertigen, also begründen, warum die einen und nicht die anderen Eingang in die Argumentation gefunden haben. Daraus wird ersichtlich, dass die demonstrative Funktion des Beispiels sehr viel stärker auf die Kohärenz der Aussage bzw. des Begriffs bezogen werden muss, deren Relevanz es aufzeigen soll. Als fundierendes Element einer Hypothese stützt es sich dabei auf eine induktive Logik.
Der – wesentlich seltenere – Gebrauch des Beispiels als Beweis unterliegt schließlich noch strengeren Zwängen. Er tritt in der Mathematik und in der Logik in der Form der beispielhaften Beweisführung und in den Naturwissenschaften in der Form des Laborexperiments auf. In den Geistes- und Sozialwissenschaften ist der Beweis durch das Beispiel praktisch unmöglich, da der Unterschied zwischen den sozio-historischen Kontexten der analysierten Handlungen unweigerlich Verschiebungen und Verzerrungen nach sich ziehen muss. Allerdings kann, wie weiter unten zu sehen ist, die mikro-historische Studie eines beispielhaften Falls Modellcharakter annehmen und so, laut der Auffassung mancher Vertreter des Mikro-Ansatzes, einen Grad von Allgemeinheit erreichen, der es ihr ermöglicht, überzeugender zu wirken als es der Formulierung einer abstrakten These möglich wäre. Wir haben es hier mit einer Art Umkehrung zu tun, indem die deduktiven Logiken der Veranschaulichung und die induktiven Logiken der Argumentation ersetzt werden durch die Herausstellung einer Singularität, deren Reichtum und Fülle über jeden Versuch von globaler Abstraktion oder Synthese hinausgehen. In Form eines Falls oder eines „richtungweisenden Paradigmas“ generiert das Beispiel hier, ausgehend von einer Einzelstudie, eigene Verständnishorizonte. Dieser „Grenzfall“ leitet zur zweiten Dimension der Frage über, zur Normativität.

Die normative Dimension
Das Beispiel als Modell oder Vorbild stellt die andere Seite der Problematik dar. Seit der Antike wurden die Beispiele herausragender Menschen zusammengetragen, die als moralische, politische und soziale Vorbilder fungieren sollten. Diese Vorbilder hatten einen doppelten Zweck: Einerseits verkörperten sie exemplarisch die Werte einer Gesellschaft und einer Kultur, die sie gewissermaßen in konzentrierter Form in sich vereinigten; andererseits hatten sie eine didaktische Funktion und sollten vor allem die Jugend belehren und ihr Werte vermitteln. Damit ist das Register der Beispielhaftigkeit angesprochen. Der außergewöhnliche und große Mensch war ausersehen, durch sein Handeln in der Lösung von Konflikten Maßstäbe zu setzen und Richtlinien vorzugeben: Aus seinem Verhalten ließ sich ableiten, welches Verhalten in welcher Situation angebracht war, immer im Einklang mit den die jeweilige Gesellschaft regulierenden Normen. Das Mittelalter hat solche Sammlungen von Exempla erstellt, Berichte über das Leben oder über Situationen des Lebens, in denen man Beispiele sehen oder lesen konnte, die zu befolgen waren. Sie wurden auch in den Predigten oder als Vorbilder für das klösterliche Leben herangezogen. Es ist offensichtlich, dass diese beispielhaften Lebensläufe auch der Veranschaulichung dienten und deshalb ebenfalls unter dem Aspekt der Rhetorik und ihrer kognitiven Dimension untersucht werden können. Einen Sonderfall dieser didaktischen Funktion bilden die Sammlungen historischer Beispiele : Schon die „Parallelbiographien“ des Plutarch haben diese richtungweisende Funktion und waren in erster Linie den Fürsten und politischen Verantwortlichen für den Fall zugedacht, dass sie schwierige Entscheidungen zu treffen hätten und in eben den „Geschichtslektionen“ Rat suchen würden, die in den Sammlungen der herausragenden Vertreter der Vergangenheit festgehalten sind. In späteren Zeiten und auf anderem Niveau haben die Prinzenspiegel ausgiebig aus derartigen Beispielsammlungen geschöpft. Der Umgang mit dem historischen Exemplum wird, Reinhart Koselleck zufolge, ab der Französischen Revolution problematisch, als infolge der nun einsetzenden Unvorhersehbarkeit der Zukunft die Geschichte zunehmend ihre Funktion als magistra vitae einbüßt. Trotzdem bleiben auch später die „Geschichtslektionen“ eine wichtige Motivation für die Geschichtsschreibung und für die verschiedenen politischen Vereinnahmungen der Vergangenheit für die Gegenwart.
Allgemein lässt sich beobachten, dass kognitive und normative Dimensionen eng miteinander verbunden sind. Zum einen mobilisieren beide in gleicher Weise sowohl die rationale Argumentation, als auch, über die Anschaulichkeit der Wahrnehmungsregister, die Gefühlswelt. Zum anderen gehören sie beide in den Bereich der Überzeugungskunst, die wiederum ein Bestandteil der Rhetorik ist. Schließlich sind beide in eine dynamische Modulierung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen eingelassen, die man in Abhängigkeit von dem Ausgangspunkt verändern kann, indem man entweder vom Generellen oder vom Singulären ausgeht. Die unterschiedlichen Verwendungen des Beispiels artikulieren sich an dem Schnittpunkt dieser beiden Richtungen.

Das Beispiel im Diskurs der Geistes- und Sozialwissenschaften
Es lässt sich leicht feststellen, dass die Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften das Beispiel auf verschiedene Weise einsetzen. Der Soziologe und der Politologe fügen in ihre Texte Auszüge aus Interviews ein, der Musikwissenschaftler und der Ethno-Musikologe verwenden Klangbeispiele, der Kunsthistoriker gebraucht Abbildungen, der Literaturwissenschaftler zitiert Autorentexte, der Jurist beruft sich auf die Rechtsprechung und die Gesetzestexte, der Historiker stützt sich auf schriftlich oder mündlich überlieferte Quellen oder Bildmaterial. Sie alle verwenden Beispiele in beiden Bedeutungen: einerseits als Veranschaulichung oder Element zur Bekräftigung ihrer Argumentation, andererseits als Kern, von dem aus sich ein Argument, eine Darstellung oder eine Erzählung entwickeln kann. Die einen stellen sich die Frage nach der Wahl und der Relevanz des Beispiels, die anderen nach seiner Fähigkeit, die Überlegung zu lenken und das analytische Handwerkszeug zu überprüfen. Die einen verwenden das Beispiel als einen Fall unter vielen, wie die Formel: « das ist der Fall von… » zeigt, während die anderen einen Einzelfall darlegen, der in seiner Beispielhaftigkeit geeignet ist, eine Gruppe von ineinander verschachtelten Problemen zu erhellen. Manchmal laufen beide Fragerichtungen auch gleichzeitig ab: Das Beispiel, der Fall ist der Ausgangspunkt des Gedankens, und zugleich dient ein Beispiel, ein Fall der Untermauerung eines Arguments, einer Hypothese.. Die Beschaffenheit des Materials bedingt jeweils spezifische Verwendungen. Ein Klangbeispiel ohne Text ist auf einer anderen Ebene angesiedelt als eine Abbildung mit ihrer unmittelbaren optischen Wirkung oder ein längerer oder kürzerer, mehr oder weniger komplexer Text. Immer aber sind die Beispiele daraufhin angelegt, dass sie in eine Überlegung oder eine Argumentation eingehen.

Strukturierung:
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen soll das Atelier in zwei Blöcken organisiert werden. Der erste soll die allgemeinen Bedingungen des Beispiels behandeln, zunächst der kognitiven Dimension und dann der normativen Dimension. Im zweiten Teil sollen, ausgehend von den vorangegangenen Diskussionen, „Beispiele“ der Beispiel-Problematik, d.h. die konkreten Anwendungen des Beispiels in den Geistes- und Sozialwissenschaften behandelt werden. Dabei werden sowohl die so genannten systematischen Disziplinen (Soziologie, Politische Wissenschaften, Anthropologie, Philosophie, Ökonomie etc.) als auch die objektzentrierten Fächer (Literatur, Kunst, Musik) sowie die dazwischen angesiedelten Disziplinen wie Geschichte oder Geographie diskutiert. Alle angesprochenen Fälle können gleichzeitig in ihrer historischen und in ihrer aktuellen Konfiguration behandelt werden.

Interessentengruppe:
16 junge ForscherInnen, vor allem DoktorandInnen oder Post-Docs (evtl. auch MasterstudentInnen), die möglicher-, aber nicht notwendigerweise in einer komparatistischen Vorgehensweise über einen deutschen oder französischen oder deutsch-französischen Themenbereich arbeiten. Jeder Teilnehmer drückt sich in der von ihm/ihr bevorzugten Sprache aus, sollte aber im Stande sein, die jeweils andere Sprache gut zu verstehen.

Ablauf und Bewerbungen:
Das Seminar gliedert sich in drei Schwerpunktthemen:
die normative Dimension des Beispiels
-die kognitive Dimension des Beispiels
-das Beispiel im Diskurs der Geistes
und der Sozialwissenschaften
Jedes dieser Schwerpunktthemen wird durch ein von einem/einer erfahrenen ForscherIn gehaltenen Kurzreferat eingeführt, dem jeweils die Diskussion der von den Nachwuchswissenschaftlern eingereichten Beiträge folgt. Zudem werden in Plenarsitzungen im Vorfeld der Veranstaltung bereitgestellte Artikel gelesen und diskutiert.

Insgesamt werden 16 ForscherInnen (acht AutorInnen und acht KommentatorInnen) ausgewählt und jeweils als Tandem eingesetzt. Jede® Autor(in) reicht schriftlich einen Beitrag ein, der dann mündlich von einem/einer Kommentator/in vorgestellt und kommentiert wird. Die Tandems (jeweils bestehend aus einem Autor und einem Kommentator) werden im Vorfeld von den wissenschaftlichen Veranstaltern zusammengestellt.

Komplete Ausschreibung und Informationen zur Bewerbung, finden Sie auf der Webseite des CIERA:
http://www.ciera.fr/ciera/exemple-exemplarite-beispiel

Beitrag von: Virginie Ransinan

Redaktion: Reto Zöllner