Stadt: Bonn

Beginn: 2014-03-26

Ende: 2014-03-29

URL: http://www.europaeische-kulturen.uni-bonn.de/programm

Wenn jede Nationalliteratur ihren eigenen Literaturkanon besitzt und über ein Pantheon klassischer Autoren verfügt, dann ist die Existenz eines europäischen Kanons durchaus problematisch.

Die Kanonisierung von Literatur auf nationaler Ebene basiert auf vielfältigen Voraussetzungen: der Existenz einer oder mehrerer für die Autorisierung eines Kanons qualifizierter Institutionen wie Schulsystem, Akademien oder politischen Entscheidungsstellen; der Bildung eines oder mehrerer für die Kanonisierung kompetenter Teams von Spezialisten; der Existenz von Werten, nicht allein literarischer, sondern auch moralischer und politischer, die die Kanonisierung begründen; der Erhebung der Literatur in den Rang einer sakralen, geweihten und somit quasi religiösen Tätigkeit, die ihr eine auf die Gemeinschaft bezogene gesellschaftliche Rolle verleiht; schließlich der Etablierung von Kanonisierungsritualen, wie sie etwa die Aufnahme in Programme, die Berufung auf ein Kulturerbe oder auch die feierliche staatliche Weihe an einem institutionalisierten Erinnerungsort darstellen.

Man sieht sofort, dass jeder dieser Ansätze mehr Fragen aufwirft, als er löst. Tatsächlich wechseln die Spezialisten von einem Jahrhundert zum nächsten, je nachdem, ob man sie, wie im 16. Jahrhundert, als eine Gelehrtengemeinschaft begreift oder, wie in dem aus der deutschen Romantik hervorgegangenen Universitätssystem, als einen Autorität darstellenden Lehrkörper; je nachdem, ob man sie als einen elitären Kreis von Gelehrten oder als eine demokratische Gemeinschaft sieht. Auch die Werte wandeln sich: Sind sie im 16. Jahrhundert aristokratisch und humanistisch, zeigen sie im 19. Jahrhundert, im Gefolge der Aufklärung Kants, republikanische, nationenbezogene und moralische Züge. Die Fragestellung nach Europa zu verlegen, löst diese Fragen nicht. Im Gegenteil wachsen dadurch die Schwierigkeiten, ohne dass man die Existenz eines europäischen Kanons verneinen kann. Dieser variiert offensichtlich von Jahrhundert zu Jahrhundert: So unterscheidet sich der Kanon der Gelehrten des 16. von dem des 20. Jahrhunderts, ohne dass man diese Unterschiede allein auf die Rückbindung an die griechisch-lateinische Kultur reduzieren kann.

Das geplante Kolloquium, das diese Fragen umkreisen soll, versammelt französische, englische, spanische, italienische, polnische, deutsche und schweizerische Forscher und verdankt sich dem Vorhaben, den europäischen Literaturkanon sowie den Kanon der europäischen Sprachen in ihrem historischen Wandel nachzuzeichnen und ihre Gründungsprinzipien zu hinterfragen. Jeder der mit den folgenden Leitfragen angedeuteten Zugänge kann Gegenstand einer Problematisierung sein, die mit einer monographischen Erörterung allein nicht zu erfassen wären.

- Was ist ein europäischer Literaturkanon? Stimmen z.B. der Kanon und die Karte Europas überein?
- Was ist der europäische Sprachenkanon?
- Welche Institutionen und Körperschaften wurden auf nationaler oder internationaler Ebene gegründet, um diese europäischen Kanons zu etablieren?
- Kann ein europäischer Literaturkanon für Europa Geltung haben oder ist er nur die Projektion der Idee, die sich eine Nation, welche es auch sei, von Europa macht? Kann es einen europäischen Kanon ohne eine Nation geben, die ihn denkt? Warum soll man angesichts der entstehenden Weltliteratur über einen europäischen Kanon diskutieren?
- Welche Werte liegen den literarischen und sprachlichen Kanons zugrunde?
- Welche Bewertungsverfahren dieser Kanons gelten auf nationaler und auf internationaler, d.h. europäischer Ebene?
- Welcher Stellenwert wird einem europäischen Literaturkanon innerhalb des Gedankens einer europäischen Identität durch Schriftsteller, Kritiker und Politiker beigemessen?

Ohne auf Vollständigkeit zu zielen, verweisen diese Fragen auf die Aktualität einer Problemstellung, in der Nationalismus und europäischer Geist sowie die durch die Globalisierung gewachsene Skepsis gegenüber kulturellen Identitäten aufeinandertreffen. Soll man sich überhaupt noch über einen möglichen europäischen Kanon verständigen, wenn die Digitalisierung, von Presse und Verlagswesen vermittelt, den schlechtesten literarischen Texten ein weltweites Publikum verschafft?

PROGRAMM

Mittwoch, 26. März 2014

Leitung: Michael Bernsen

14:00–14:30
Eingangsdiskussion

14:30–15:15
Peter Frei, „Rabelais, il a raté son coup“: l’histoire d’une canonisation paradoxale (Fribourg)

15:15–16:00
Michael White, Le réalisme allemand du XIXe siècle et la canonisation européenne (St Andrews)

16:00–16:30
Pause

Leitung: Thomas Hunkeler

16:30–17:15
Fabienne Bercegol, Les littératures européennes dans le discours critique au début du 
XIXe siècle : l’exemple de Chateaubriand (Toulouse)

17:15–18:00
Didier Alexandre, Goethe et le canon européen dans la critique en France (1870-1914) (Paris)

18:00–18:45
Michael Bernsen, Pourquoi le portrait Louis XIV en costume de sacre d’Hyacinthe Rigaud appartient-t-il au canon européen? (Bonn)

Donnerstag, 27. März 2014

Leitung: Franz Lebsanft

09:00–09:45
Alessandro Galicchio, Entre cosmopolitisme et chauvinisme: la difficile reconstruction d’un “canon artistique” à Paris dans l’entre-deux-guerres (Florence)

09:45–10:30
Jean Yves Laurichesse, La bibliothèque européenne de Jean Giono (Toulouse)

10:30–11:00
Pause

Leitung: Henryk Chudak

11:00–11:45
Patrizio Collini, Kurt Wolff: Un éditeur établit le canon littéraire expressioniste (Florence)

11:45–12:30
Véronique Gély, La littérature comparée aujourd’hui, instance de validation d’un canon européen?(Paris)

12:30–13:15
Aneta Bassa: Le canon littéraire européen revisité par les critiques de la Toile (exemples des sites français, polonais et italiens) (Varsovie)

13:15–15:00
Mittagspause

15:00–15:45
Besprechung

Leitung: Didier Alexandre

15:45-16:30
Henryk Chudak, Perspectives polonaises sur le canon littéraire européen (Varsovie)

16:30–17:00
Pause

17:00–17:45
Mario Domenichelli, Canon Wars, European Identity(ies), and Globalization (Florence)

17:45–18:30
Fiorenzo Fantaccini, Irish Canon/s and European Cultural Spaces (Florence)

Freitag, 28. März 2014

Leitung: Jean Yves Laurichesse

09:00–09:45
Franz Lebsanft, Le français, langue malheureuse? (Bonn)

09:45–10:30
Raúl Sánchez Prieto, Language Conflict in Western and Eastern Europe: trying to Establish a Canon (Salamanque)

10:30–11:00
Pause

Leitung: Mario Domenichelli

11:00–11:45
Romuald Fonkoua, Le canon européen dans la littérature francophone (Paris)

11:45-12:30
Remigius Forycki: Entre l’Est et l’Ouest ou quels partages littéraires en Europe? (Varsovie)

12:30-13:15
Mittagspause

13:15-15:00
Diskussion der Ergebnisse und der Perspektiven des Netzwerks

Ende des Kongresses

Beitrag von: Milan Herold

Redaktion: Christof Schöch