Sozialgeschichte der kubanischen Literatur (1608-1958) (Monographie)


Allgemeine Angaben

Autor(en)

Martin Franzbach

Verlag
Valentia
Stadt
Frankfurt am Main
Publikationsdatum
2012
Auflage
1
Reihe
Bibliotheca Romanica et Latina, vol. 14
Weiterführender Link
http://d-nb.info/1022216317
ISBN
978-3-936132-14-4 ( im KVK suchen )
Thematik nach Sprachen
Spanisch
Disziplin(en)
Medien-/Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft
Schlagwörter
Lyrik, Aufklärung, Romantik, Modernismus, Theater, Exilliteratur, Frankophone Literatur, Frauenliteratur, Costumbrismo, Literaturkritik, spanischer bürgerkrieg, Revolution, Erzählliteratur, Naturalismus, Kolonialzeit, Liberalismus, Chroniken, Essay, historischer Roman, Kriegsliteratur, Abolitionismus, Kolonialepik, Pressewesen, Kreolismus, Siboneyismo, Literatura de testimonio, Freiheitskriege, Teatro Bufo, Teatro Mambí, Biographien, Genreroman, Frauenlyrik, Neomodernistische Lyrik, Postmodernistische Lyrik, Sozialkritisches Theater, Grupo Minorista, Afrokubanismus, Antiimperialismus, L'art pour l'art, Orígenes, Kolumbus, Las Casas, Castellanos, José María Heredia, Nicolás Guillén, José Lezama Lima, Alejo Carpentier, Fernando Ortiz

Exposé

Einleitung

Vorliegende Sozialgeschichte der kubanischen Literatur umfaßt einen Zeitraum von dreieinhalb Jahrhunderten (1608-1958). Sie bildet mit dem zweiten Band, der die Epoche von 1959 bis 2005 beinhaltet, eine homogene Einheit mit zahlreichen Querverweisen.

Während die insel- und exilkubanische Literatur der Revolutionszeit zahlreiche Untersuchungen und Polemiken hervorgerufen hat, ist die neuere Forschungsliteratur zu den Anfängen der kubanischen Literatur (Silvestre de Balboa: Espejo de Paciencia, 1608) bis 1959 lückenhaft und größtenteils auf Schwerpunkte im 19. und 20. Jahrhundert konzentriert.

Ein Grund ist sicherlich in der schwierigen Material- und Quellenlage zu sehen. Während die Suche nach bestimmten Werken und Autoren in kubanischen Bibliotheken oft chaotisch und zeitraubend ist, haben europäische Bibliotheken die kubanische Literatur der Kolonialzeit nur eklektisch gesammelt. Nach dem Exodus vieler kubanischer Philologen und Schriftsteller — vor allem in die USA — sind dort allerdings zahlreiche interessante Einzelstudien zur Literatur vor 1959 erschienen.

Ein Blick in die maßgeblichen Synthesen der kubanischen Literatur vor 1959 zeigt bei allen Verdiensten die methodischen und inhaltlichen Schwächen. So hat Max Henríquez Ureña (Panorama histórico de la literatura cubana, 2 Bde., La Habana 1978-1979, beendet in Santo Domingo 1962/1963) seine Darstellung rein deskriptiv stark auf Personen und Werke zentriert. Das Werk ist aber auch im Faktengehalt in zahlreichen Fragen unzuverlässig und lückenhaft. Im Fahrwasser des Positivismus hat Juan R. Remos y Rubio (Historia de la literatura cubana, 3 Bde., La Habana 1945) seine Literaturgeschichte gleichzeitig als Anthologie angelegt

Der viel verlegte Abriß von José Antonio Portuondo (Bosquejo histórico de las letras cubanas, La Habana 1960, erweiterte Ausgabe 1962) folgt noch dem Generationenschema und ist stärker auf das 20. Jahrhundert als auf den Zeitraum davor konzentriert. Das gilt auch für den bekannten Literaturhistoriker Salvador Bueno (Historia de la literatura cubana, Erstauflage 1954), dessen Einzelstudien zur kubanischen Literatur vor 1959 jedoch sehr verdienstvoll sind.

Am Instituto de Literatura y Lingüística der Akademie in Havanna arbeitet ein Kollektiv an einer kubanischen Literaturgeschichte, von der bisher erst zwei Bände erschienen sind. Die Arbeiten kommen nur schleppend voran, jedoch ist der Versuch einer kritischen Geschichte der kubanischen Literatur wenigstens ansatzweise zu erkennen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß ein Hauptmanko dieser Darstellungen die weitgehend fehlende theoretische Reflexion über die Zusammenhänge zwischen Literatur und Geschichte in interdisziplinären, nicht additiven Zusammenhängen ist. Auch die hagiographische Darstellung bestimmter ‘Lichtgestalten’ wie Martí, Martínez Villena oder Guillén verstellt oft den Blick auf andere Phänomene, welche die kubanische Literatur in weltliterarischen Zusammenhängen erscheinen ließen. Dadurch würden sich auch neue Perspektiven für die Kanonbildung ergeben.

In diesem Band gliedere ich innerhalb einer chronologischen Vier-Phasen-Einteilung, die ihre Zäsur durch historisch entscheidende Ereignisse erfährt, die Materie nach Gattungen, wobei wichtigen Persönlichkeiten eigene Kapitel gewidmet sind. Neben der Produktion und Distribution von Literatur versuche ich möglichst viele in einer Gesellschaft dominierende Ideen zu erfassen. Im sozialgeschichtlichen Bereich sind Gruppenbildungen, regionale Phänomene, Erziehungs- und Bildungswesen und das ständige Geben und Nehmen zwischen Metropole und Peripherie untersucht, wobei neben die Kolonialmetropole Spanien schon im 19. Jahrhundert andere europäische und nordamerikanische Parameter (auch durch den Strom der kubanischen Emigranten) treten.

Mein Literaturbegriff umfaßt dabei auch Gattungen wie Geschichtschroniken, Flugblattliteratur und politische Reden, die häufig nicht im Kanon der Literaturgeschichten zu finden sind. In der Kanonbildung drückt sich sicherlich eine Wertung aus, aber die Grenzen zwischen ‘hoher’ und ‘niederer’ Literatur sind als fließend ohne Ausschlußcharakter bestimmter Autoren und Werke anzusehen.

Wenn ich davon ausgehe, daß es innerhalb einer Geschichte von Nationalliteraturen allein von jeder Epoche und Gattung eine Fülle von Einzeldarstellungen geben kann, muß eine nationale Literaturgeschichte notwendigerweise Schwerpunkte setzen. Mein Ansatz einer Sozialgeschichte der kubanischen Literatur berücksichtigt die Bedingungen literarischer Produktion und das Wechselverhältnis zwischen literarischem Werk und historischem Kontext. Die Aneignung von Realität wird als reziproker Prozeß zwischen dem literarischen Produkt und den verschiedenen Formen gesellschaftlicher Wirklichkeit gesehen. Ansätze der Mentalitätsgeschichte innerhalb einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft finden dabei genauso Berücksichtigung wie funktions- und rezeptionssoziologische Fragen.

Das Ziel ist keine enzyklopädische Gesamtdarstellung einer Nationalliteratur — häufig genug ein abschreckender Friedhof von Fakten, Namen und Werken —, sondern ein exemplarischer, lebendiger Einblick in literarische und kulturelle Prozesse und Entwicklungen, die zum Beispiel auch neue Ergebnisse der Gender Studies aufnehmen.

Der Konstruktcharakter jeder Literaturgeschichte muß dabei in Kauf genommen werden. Auswahlkriterien und Wertungen sind allerdings bei einer Literaturgeschichte zu älteren Epochen leichter zu treffen als in einer Geschichte der Gegenwartsliteratur. Das diachrone Gliederungsprinzip wird bei den Gattungskriterien um die synchrone Dimension erweitert. Die «Koexistenz des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen» (S. Kracauer) erfordert vom Verfasser ein hohes Maß an Beweglichkeit und Flexibilität.

Eine Gefahr sozialgeschichtlich orientierter Literaturgeschichten ist die starke Betonung außerliterarischer Phänomene und die Vernachlässigung der Textinterpretation. Selbstverständlich muß das Werk im Mittelpunkt stehen. Diese Geschichte der kubanischen Literatur lebt gerade von den umfangreichen und in die Tiefe gehenden Werkdeutungen, die dem Buch den rein resümierenden und deskriptiven Charakter nehmen.

Die Arbeiten Pierre Bourdieus, vor allem sein Standardwerk Les règles de l’art: genèse et structure du champ littéraire (1992) haben mir dabei sehr geholfen, das Soziale als objektivierte Geschichte in Gestalt von Institutionen zu bestimmen. Den älteren Arbeiten von Hauser, Lukaćs und Goldmann verdanke ich dabei ebensoviele Erkenntnisse.

Insgesamt fasse ich die Vorzüge und die Originalität dieser zweibändigen Literaturgeschichte wie folgt zusammen:

1. Es ist die erste moderne Sozialgeschichte der kubanischen Literatur, in der Produktion, Distribution und Rezeption in ihrem historischen Kontext gleichermaßen gewürdigt werden.

2. Die internationalen weltliterarischen und komparatistischen Zusammenhänge werden umfassend verfolgt. Die bisherige kubanische Literaturgeschichtsschreibung hat ihre Literatur allzusehr unter rein nationalliterarischem Aspekt betrachtet.

3. Aus den methodischen Überlegungen gehen meine pluralistisch durchdachten Ansätze hervor, die in der internationalen literatursoziologischen Tradition stehen.

Meinem Freund Axel Schönberger danke ich für das Wagnis, diese beiden Bände herauszugeben. Ohne seinen Einsatz hätte diese Sozialgeschichte der kubanischen Literatur nicht erscheinen können.

Dieser Text ist über Jahre gereift und wäre ohne Reisestipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir Studienaufenthalte in Berlin, Madrid, New York, Washington, Miami, Havanna, Santa Clara und Santiago de Cuba ermöglichten, nicht zum Abschluß gekommen.

Hamburg, im September 2011

Martin Franzbach

Inhalt

Einleitung: 9

Basisbibliographie: 12

Los pasos perdidos: die indianischen Kulturen: 17

I Die Kolonial- und Sklavenhaltergesellschaft (1492-1790)

Die Kolonialchronisten und der Völkermord (Kolumbus, Las Casas, Castellanos): 19

Kolonialepik (Silvestre de Balboa): 24

Die Phase der Institutionalisierung des Kulturbetriebs (18. Jahrhundert): 27

Gelehrte und volkstümliche Lyrik: 29

Spätbarockes Theater (Santiago de Pita): 32

Anfänge nationaler Geschichtsschreibung (Morell de Santa Cruz, Arrate, Ribera, Urrutia y Montoya): 36

II Auf der Suche nach der nationalen Identität (1790-1868)

Der politische und institutionelle Rahmen: 39

Das Pressewesen als Kulturträger und Vorkämpfer für bürgerliche Freiheiten: 44

Die Revolution in Haiti und ihre literarischen Auswirkungen auf Kuba: 47

Die Väter des Liberalismus: J. A. Caballero, O’Gavan, Padre Varela, Saco, Luz y Caballero, Sanguily: 49

Zwischen Aufklärung und Romantik: Lyrik und Theater von José María Heredia: 56

Die kubanische Romantik (Plácido, Milanés, Mendive, Quintero, Zenea): 62

Lyrik im Zeichen der Epigonen (Zequeira y Arango, Rubalcava, Pérez y Ramírez, Valdés Machuca, Muñoz del Monte, Iturrondo, Santacilia): 75

Der Kreolismus und der siboneyismo (F. Poveda, Vélez Herrera, Palma, Teurbe Tolón, Lorenzo Luaces, Fornaris, Fajardo): 78

Domingo del Monte und sein Kreis: 84

Die Anfänge des Testimonio (Juan Francisco Manzano): 87

Die abolitionistische Literatur (Gómez de Avellaneda, Tanco, Suárez y Romero, Morillas, Zambrana): 90

Die Anfänge der Frauenliteratur (Gómez de Avellaneda, Pérez de Zambrana, Pérez y Montes de Oca, S. Estevez): 100

Der Costumbrismo als Vorläufer des bürgerlichen Realismus: 108

Costumbristische Genrebilder (Betancourt Cisneros, Cárdenas y Rodríguez, J. V. Betancourt, Gelabert, L. V. Betancourt): 115

Der costumbristische Roman (Villaverde, Piña, J. R. Betancourt): 122

Die costumbristische Reiseliteratur (Ferrer, Gräfin Merlín, Andueza): 136

Der Costumbrismus auf dem Theater (Covarrubias, Crespo Borbón, Millán): 139

III Literatur im Aufbruch: die Unabhängigkeitskriege (1868-1898)

Das Jahrhundert der Freiheitskriege und das Ende der Sklavenwirtschaft: 143

Das Teatro Bufo und das Teatro Mambí (Valerio, Fernández Vilaros): 145

Die patriotische Lyrik (Céspedes, Sellén, Hernández Miyares, Byrne): 151

Kriegsliteratur und Biographien (Gómez y Báez, Roa y Gari, Figueredo Socarrás, Boza, Cruz, Piedra Martel, Loynaz del Castillo): 156

Der bürgerliche Genreroman des Fin de Siècle (Heredia y Mota, Meza): 158

Lyrikerinnen zwischen Tradition und Moderne (Krüger y del Busto, Matamoros, Xenes, Rodríguez de Tío, Juana Borrero): 162

Anfänge des Modernismus (Casal, die Brüder Uhrbach): 166

José Martí als Literat: 172

Frankophone Literatur kubanischer Autoren (Heredia, Armas, Edouard Price, Godoy): 189

Philologie, Essay und Literaturkritik im 19. Jahrhundert: 192

IV Die Literatur unter der Republik (1902-1958)

Neokolonie und Identitätssuche (1902-1933)

Cuba Libre und die Situation der Schriftsteller: 197

Intimistische Frauenlyrik (Dulce María Borrero de Luján, Bernal de Agüero, Torrens de Garmendía, M. L. Milanés): 198

Neomodernistische oder postmodernistische Lyrik und Prosa (Boti, Acosta, J. M. Poveda): 201

Der gesellschaftskritische Roman des Naturalismus (Morúa Delgado, Bobadilla, Carrión, Montori, Castellanos, Loveira, Rodríguez Acosta): 207

Der klassische historische Roman (Bacardí Moreau, R. Cabrera, L. F. Rodríguez): 218

Volkstümliches und sozialkritisches Theater (Robreño Ramos, Sánchez Varona): 221

Der Grupo Minorista und die Revista de Avance: 224

Der «dritte Entdecker Kubas»: Fernando Ortiz: 227

Antiimperialismus und bürgerlicher Reformismus (1933-1958)

Der Afrokubanismus und das Interesse für die ethnischen Wurzeln (Tallet, L. Cabrera, Guirao Tallet, Ballagas Pedroso): 231

Nicolás Guillén: vom Antiimperialismus bis an die Schwelle der Revolution: 240

Der Brückenschlag García Lorcas und die Literatenfamilie Loynaz: 244

Das kulturelle und politische Engagement der kubanischen Intellektuellen im Spanischen Bürgerkrieg: 255

Die kulturelle Rolle des spanischen republikanischen Exils auf Kuba: 261

Die Blütezeit der Erzählliteratur (Hernández Catá, Montenegro, Labrador Ruiz, Amado-Blanco, Novás Calvo, Pita Rodríguez, Jorge Cardoso, Casey): 267

Die Lyrik zwischen l’art pour l’art und sozialer Verantwortung (Brull, Navarro Luna, Pedroso, Martínez Villena, Florit, Augier, Buesa, Aguirre, Feijóo, Gaztelu, Baquero, Diego, Vitier, García Marruz, Oliver Labra): 286

Die Bedeutung der Gruppe Orígenes (1944-1956): 315

Der Kosmos von José Lezama Lima: 318

Literatur als Bildungsprogramm: Alejo Carpentier: 325

Das Theater als Spiegel der Gesellschaft (Alfonso, Piñera, Felipe, Ferrer): 336

Philologie, Essay und Literaturkritik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: 346

Quellenverzeichnis: 355

Verzeichnis der Eigennamen: 357


Anmerkungen

Es handelt sich um den ersten Band der ersten modernen Sozialgeschichte der kubanischen Literatur, in der Produktion, Distribution und Rezeption in ihrem historischen Kontext gleichermaßen gewürdigt werden. Der zweite Band ist in zwei Teilen in spanischer Sprache erschienen.

Ersteller des Eintrags
Martin Franzbach
Erstellungsdatum
Donnerstag, 10. November 2016, 17:35 Uhr
Letzte Änderung
Samstag, 12. November 2016, 19:43 Uhr