Sprachliche Hybridität in der italo-brasilianischen Literatur (Monographie)

Eine soziolinguistische Analyse der Sprachmischung zwischen Italienisch/Talian und Portugiesisch in literarischen Texten aus São Paulo und Rio Grande do Sul


Allgemeine Angaben

Autor(en)

Katharina Mülller

Verlag
Lang
Stadt
Berlin
Stadt der Hochschule
Gießen
Publikationsdatum
2022
Reihe
Iberolinguistica; 8
Weiterführender Link
https://www.peterlang.com/document/1254434
Art der Publikation
978-3-63188-183-5, doi: 10.3726/b19853, Hardcover + eBook
Thematik nach Sprachen
Italienisch, Portugiesisch
Disziplin(en)
Sprachwissenschaft
Schlagwörter
Migrationslinguistik, Soziolinguistik, Code-Switching, Talian

Exposé

Die italo-brasilianische Literatur über die italienische Einwanderung in Brasilien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ist ein frühes, aber bislang kaum untersuchtes Beispiel der literarischen Auseinandersetzung mit Migration und Mehrsprachigkeit. Diese Arbeit analysiert die Formen und Funktionen der Sprachmischung zwischen brasilianischem Portugiesisch und Italienisch/Talian in literarischen Texten aus São Paulo und Rio Grande do Sul von den 1920er bis in die 2000er Jahre aus soziolinguistischer Perspektive. Dabei werden Theorien zur literarischen Mündlichkeit und Mehrsprachigkeit mit denen des Code-Switching verbunden und die Ergebnisse vor dem Hintergrund kulturwissenschaftlicher und soziolinguistischer Hybriditätstheorien interpretiert.

Inhalt

Einleitung

Durch die Globalisierung hat das Thema der Migration in jüngster Zeit an immer größerer Bedeutung gewonnen. Mit Migration sind meist Sprachkontakte verbunden, die zu Mehrsprachigkeit und Sprachwandelprozessen führen. Dabei ist migrationsbedingte Mehrsprachigkeit kein neues Phänomen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Massenemigration aus Europa nach Süd- und Nordamerika, wobei die Einwander*innen sprachlich und kulturell ihre Spuren in den jeweiligen Aufnahmeländern hinterlassen haben. Dies wird auch in der Literatur reflektiert. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind viele mehrsprachige literarische Texte entstanden, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich mit dem Thema der Migration auseinandersetzen. Diese weisen verschiedene Formen der Sprachmischung auf und sind neuerdings verstärkt Thema literatur- und sprachwissenschaftlicher Studien geworden, die jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen disziplinären Verortung bisher nur selten miteinander in Dialog treten (vgl. Dembeck 2017).

Ein frühes, aber bislang kaum untersuchtes Beispiel der literarischen Auseinandersetzung mit Migration und Mehrsprachigkeit ist die italo-brasilianische Literatur, die sich mit der italienischen Einwanderung in Brasilien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Dabei war die italienische Präsenz und somit auch die literarische Produktion in den Bundesstaaten São Paulo und Rio Grande do Sul am stärksten. Die von den italienischen Einwander*innen und ihren Nachkommen in Südbrasilien gesprochene venetische Koiné, Talian genannt, ist seit 2009 in Rio Grande do Sul und Santa Catarina und seit 2014 in ganz Brasilien offiziell als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Bis heute gibt es Theateraufführungen, Radioprogramme, Zeitungskolumnen und literarische Texte auf Talian (vgl. Pozenato et al. 2010).

Die Sprachmischung in der italo-brasilianischen Literatur soll in der vorliegenden Arbeit aus soziolinguistischer Perspektive analysiert werden. Dabei gehen die ersten italo-brasilianischen Texte bereits auf die 1920er-Jahre zurück, als in São Paulo Texte auf Portugiesisch mit italienischen Code-Switches von meist luso-brasilianischen Autoren (Alexandre Marcondes Machado alias Juó Bananére, Antônio de Alcântara Machado und Mário de Andrade) veröffentlicht wurden. Diese sind Vertreter des brasilianischen Modernismus, der u.a. die Suche nach einer eigenen brasilianischen (Literatur)Sprache beinhaltet, in die die Einwanderungssprachen im Sinne der Anthropophagie-Bewegung einverleibt werden. In Rio Grande do Sul hingegen entstanden zur gleichen Zeit Texte im von den Einwander*innen gesprochenen Veneto-Dialekt oder in seltenen Fällen auf Standarditalienisch, die zunächst von klerikalen Autoren italienischer Abstammung (Aquiles Bernardi, Carlo Porrini, Ricardo Domingos Liberali und Nicolau Lucian alias Nanni Contastórie) verfasst wurden. Besonders einflussreich sind dabei die Geschichten von Nanetto Pipetta von Aquiles Bernardi, die ursprünglich 1924-25 in Episodenform in der Zeitung Staffetta Riorandense erschienen und von denen bis heute Fortsetzungen veröffentlicht werden. Sie werden sogar als „einer der Faktoren, die für den Erhalt der italienischen Kultur in Rio Grande do Sul verantwortlich sind“ (Battistel/Costa zit. in Parenti 2000: 9) bezeichnet.

Eine Zäsur erlebte die literarische Produktion durch das Verbot der Einwanderungssprachen in Brasilien von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei diese auch in den darauffolgenden Jahren noch sozial stigmatisiert blieben. Erst seit den 1960er-Jahren und insbesondere seit der 100-Jahr-Feier der italienischen Einwanderung in Rio Grande do Sul 1975 entstanden wieder neue mehrsprachige italo-brasilianische Texte. Seitdem gibt es sowohl in São Paulo (Zélia Gattai) als auch in Rio Grande do Sul (José Clemente Pozenato) brasilianische Autor*innen mit italienischen Vorfahren, die in ihren portugiesischsprachigen Texten mit italienischen Code-Switches die italienische Einwanderung in Brasilien thematisieren, wobei in Rio Grande do Sul auch weiterhin Texte auf Talian mit portugiesischen Code-Switches veröffentlicht werden (z. B. von Darcy Loss Luzzatto).

Diese Texte sind bislang nur in Einzelfällen sprachwissenschaftlich analysiert worden, vor allem die Pionierwerke La Divina Increnca von Juó Bananére (Antunes 1998), Brás, Bexiga e Barra Funda von Antônio de Alcântara Machado (Picherle 2006) und Os Contos de Belazarte von Mário de Andrade (Pincherle 2006, 2008) aus São Paulo sowie die Werke Vita e stória de Nanetto Pipetta und Stória de Nino Fradello de Nanetto Pipetta von Aquiles Bernardi (Meo Zilio 2001a, 2001b, 2001c, 2001d, 2004), Togno Brusafrati von Domingos Liberali und Stória de Peder von Nanni Constastórie (Gardelin 1988) sowie die Bücher von Darcy Loss Luzzatto (Faggion 2012) auf Talian aus Rio Grande do Sul. Übergreifende Studien untersuchen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive entweder die Texte aus São Paulo (Carelli 1985; Ghirardi 1985 und 1994; Hohlfeldt 1994) oder Rio Grande do Sul (Gardelin 1988; Hohlfeldt 2001: 207 f., der ansatzweise die Literatur aus Rio Grande do Sul mit der aus São Paulo vergleicht), thematisieren jedoch die Sprachmischung wenn überhaupt nur am Rande. Zudem gibt es zu den neueren Texten, die seit 1960 entstanden sind, bislang nur wenige Studien.

Dabei können die Sprachwahl und die Sprachmischung in der mehrsprachigen Literatur durchaus Aufschlüsse über die Sprachkontaktsituation geben, auch wenn die literarische Sprache natürlich kein exaktes Abbild der gesprochenen Sprache ist. Es ist jedoch von Bedeutung, welche sprachlichen Mittel für die Darstellung der Sprachkontaktsituation eingesetzt werden und warum. Dies soll in der folgenden Analyse von 20 italo-brasilianischen Texten untersucht werden. In die Interpretation fließen auch Erkenntnisse aus zwei von mir geführten Interviews mit exemplarischen zeitgenössischen Autoren (José Clemente Pozenato und Darcy Loss Luzzatto) ein, von denen einer auf Portugiesisch und der andere in der venetischen Koiné schreibt.


Anmerkungen

keine

Ersteller des Eintrags
Katharina Mülller
Erstellungsdatum
Donnerstag, 14. März 2024, 21:24 Uhr
Letzte Änderung
Sonntag, 17. März 2024, 21:06 Uhr