Als vorvergangene Woche die Nachricht vom Tod Wulf Oesterreichers bekannt wurde, sprach die Rund-Mail, die dies in der hispanischen Welt verbreitete, von “uno de los más grandes romanistas de nuestro tiempo". Wulf Oesterreicher wurde am 2. Dezember 1942 geboren, entstammte einer sudetendeutschen Familie und wuchs in Esslingen bei Stuttgart auf. Nach dem Studium der Romanistik, der Germanistik und der Philosophie in Tübingen war er lange Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg im Breisgau tätig und vertrat eine Professur in Frankfurt am Main. Im Jahr 1991 wurde er auf eine Professur an die LMU und schließlich, 1994, auf den traditionsreichen sprachwissenschaftlichen Lehrstuhl für Romanische Philologie in München berufen, den vor ihm Forscherpersönlichkeiten wie Karl Vossler, Gerhard Rohlfs, Hans Rheinfelder, Helmut Stimm und Wolf-Dieter Stempel innehatten.

Wulf Oesterreicher verstand sich vor allem als Strukturlinguist; die beiden Artikel zu “Gemeinromanische[n] Tendenzen” (“Syntax” und “Morphosyntax”) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (Ch. Schmitt/G. Holtus/M. Metzeltin eds., Tübingen: Niemeyer 1996) waren die Grundlage seiner kumulativen Habilitation; sie und der zusammen mit M. Haspelmath, E. König und W. Raible herausgegebene Doppelband Sprachtypologie und Universalienforschung (Handbücher zur Sprach und Kommunikationswisssenschaft 20.1/2) stehen für die Themen “Sprachwandel” und “Typologie”, und damit für den funktionalistischen Zugang Oesterreichers zur Sprachstruktur.

Seit der Dissertation (Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft, Heidelberg; Winter 1979) zählten aber besonders die Theoriediskussion und die methodologischen Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, zu Oesterreichers Hauptanliegen. Seine Bestimmung des Gegenstands der Sprachwissenschaft steht in der Tradition Humboldts, Saussures und des Strukturalismus, vermittelt durch seinen wichtigsten Tübinger Lehrer Eugenio Coseriu. Von dort stammt aber auch die Einsicht, dass dieses Objekt der Historizität unterliegt, dass nicht nur die Sprache, sondern bis zu einem bestimmten Grad auch die sprachliche Aktivität eine historische Größe ist.

Der disziplinären Selbstvergewisserung dient auch die Einführung in die romanische Sprachwissenschaft (Darmstadt, WBG, 1982), die Oesterreicher mit seinem Freiburger Lehrer und Mentor Hans-Martin-Gauger und seinem Kollegen Rudolf Windisch verfasst hat und die mehr als eine Fachgeschichte denn als ein Einführungsbuch zu lesen ist. Die Wissenschaftsgeschichte blieb für Oesterreicher ein zentrales Thema: zum einen das komplexe Verhältnis zwischen der universalistisch denkenden Sprachreflexion der französischen Aufklärung und der ‘historischen Wende’, die der deutsche Idealismus, angeführt durch Wilhelm von Humboldt, dem entgegensetzte; zum anderen die Aufsätze über die nationale Sprachgeschichtsschreibung, wo herausgearbeitet wird, inwieweit die sprachhistorische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts einer ‘invertierten Teleologie’ unterliegt, indem sie in den ältesten Texten der romanischen Sprachen bereits die Keimzellen der Sprachen entdecken will, die sich erst in der Neuzeit aus historischer Kontingenz als Nationalsprachen konstituiert haben.

Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von universellen Prinzipien und historischen Anteilen beim Sprechen und bei den Sprachen liegt auch der Theorie von sprachlicher Nähe und sprachlicher Distanz zugrunde, die Oesterreicher in den 1980er Jahren zusammen mit Peter Koch im Kontext des legendären interdisziplinären Freiburger Sonderforschungsbereichs Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entwickelt hat und die die unpräzisen Begriffe mündlich und schriftlich in einer umfassenden Theorie der verschiedenen Modi sprachlicher Kommunikation rational rekonstruiert; eine Theorie, die gerade im Umbruch der neuen Medien ihr Potential erweist und die auch jenseits der Romanistik zum Standard wurde. Die spanische Version des 2011 neu aufgelegten Buchs Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (Berlin/New York: De Gruyter) begründete den enormen Einfluss und das hohe Ansehen, das Oesterreicher auch in Spanien und Lateinamerika hatte. Auf dieser Theorie bauen auch seine Publikationen und Forschungsprojekte zum Schrifttum der kolonialen Expansion Spaniens auf. Dort geht es vor allem um die aufgeschriebenen Berichte und Zeugnisse von wenig oder gar nicht schreibkundigen Konquistadoren und ihre eigenartige Verfangenheit zwischen gewohnter sprachlicher Nähe und dem Bemühen um die nur vage vertrauten Regeln der sprachlichen Distanz. Wieder zeigt sich hier der historische Aspekt, dem nicht nur die Sprachstrukturen, sondern auch die Prinzipien und Regeln der Textproduktion unterliegen: der Begriff der Diskurstradition, mit seiner beeindruckenden Erfolgsgeschichte in der Romanistik des deutschsprachigen Raums und in der Romania selbst, ist ebenfalls als ein Teil des Theoriegebäudes von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entstanden.

Neben der amerikanischen war die mediterrane Expansion Spaniens ein Thema, das er in den Münchener Sonderforschungsbereich Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit einbrachte. Diesen baute er maßgeblich mit auf und er fungierte lange als dessen Sprecher. Die sprachliche Situation im spanisch dominierten Königreich Neapel und in Sizilien im 16. und 17. Jahrhundert war als Thema wie geschaffen für den Vollromanisten Wulf Oesterreicher, der nicht nur in den drei ‘großen’ romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch zuhause war, sondern für den die Landkarte der romanischsprachigen Welt, von Jaşi an der moldauischen Grenze bis auf den Gipfel des Chimborazo, kaum weiße Flecken bot. Oesterreicher war auch einer der engagiertesten Streiter für den Erhalt einer Voll-Romanistik, in der keine der romanischen National- und Regionalsprachen und ihrer Varietäten aus dem Blick geraten sollte. Dies setzte er auch institutionell erfolgreich durch, auf seinem Münchener Lehrstuhl, besonders aber auch als langjähriger Vorsitzender des Deutschen Romanistenverbandes in Zeiten stark zentrifugaler Tendenzen. Als Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und deren Sprachkommission hat er sich für eine Politik der Sprachenvielfalt in Europa stark gemacht; als Mitglied und Sprecher des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft und als Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war er immer Anwalt von disziplinärer und methodischer Vielfalt. Der interdisziplinäre Dialog und Zugriff – immer aus einer wohlverstandenen und gut definierten Disziplinarität heraus – war sein grundsätzlicher Arbeits- und Denkmodus. Seine streitbare Diskussionsfreude, seine Begeisterungsfähigkeit und sein Charisma reflektieren sich in der unübersehbaren Schülerschaft, über einem halben Hundert betreuter Dissertationen, zahlreichen Hochschullehrern, Professoren und vor allem Professorinnen aus seiner Schule. Wulf Oesterreicher ist am 7. August 2015 nach kurzer schwerer Krankheit in Freiburg gestorben.

Daniel Jacob, Freiburg

Beitrag von: Lars Schneider

Redaktion: Lars Schneider