Stadt: Mainz

Beginn: 2015-10-04

Ende: 2015-10-09

URL: http://karin-peters.com/aktuelles/

Das Romanische Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz veranstaltet vom 4.-9. Oktober 2015 eine interdisziplinäre Herbstschule zum Thema:

Distance and/or Close-up. Visuality, Community, and Affect in Representations of History

Gefördert von der VolkswagenStiftung, dem Zentrum für Interkulturelle Studien und der Abteilung Internationales der JGU Mainz.

Organisation:
Dr. Karin Peters, Dr. Julia Brühne, Lisa Zeller, M.A. (Romanistik), Dr. Susanne Mersmann (Kunstgeschichte)

Veranstaltungsort:
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Philosophicum, Fakultätssaal und P 208

Geschichtsdarstellungen bieten, so argumentiert Hayden White in seiner einflussreichen Studie Metahistory, Erzählungen an, die narrative Mittel einsetzen, um bestimmte Versionen historischer Ereignisse zu präsentieren. Benedict Anderson seinerseits betont, dass die Entwicklung der modernen Nationalstaaten ohne die Rolle, die den Schrift- und Printmedien und damit dem Erzählen und Lesen der nationalen Geschichte zukommt, nicht zu denken sei. Imagined communities konstituieren sich allerdings in ihrem Verhältnis zur Geschichte nicht nur über geteilte Praktiken oder geteiltes Wissen, sondern auch über geteilte Affekte, die bedeuten, dass die Mitglieder einer imagined community die Wahrheit und Realität ihrer eigenen Geschichte tatsächlich zu fühlen meinen. So sind es affektisch besetzte, politisch wirksame und ‚mythisch‘ gewordene Narrative der Geschichte, die der Zeit einer imagined community Form und ‚Realität‘ verleihen können. Erzählungen, die erlebbare Nähe zur Geschichte eines Kollektivs evozieren, arbeiten dabei unabhängig davon, ob es sich um ein Bild- oder Textmedium handelt, mit Visualisierungseffekten. Visualität, Gemeinschaft und Affekt gehen also in Bilddarstellungen oder auch in durch die Vorstellungskraft generierten Bildern von Geschichte funktionale Interdependenzen ein. Sie können ein identifikatorisches Close-up oder aber eine kritische Distanz zur Geschichte produzieren. In den Sektionen der Herbstschule soll dieses Verhältnis mit Blick auf neuere Theorien zum politischen Affekt, wie sie etwa Jon Beasley-Murray (Posthegemony, 2010) vorgeschlagen hat, diskutiert werden.

Wenn der aus den antiken pathemata ableitbare „Affekt“ diejenige emotive Qualität ist, die primär ‚zustößt‘, dann aber – sei es in Bild oder Text – eine bewusst einkalkulierte ästhetische Wirkung entfalten kann, so lässt sich hier aus der Warte der Literatur- und Kunstwissenschaft anschließen. Denn Affekte werden in textuellen und visuellen Narrationen aktiviert oder aktualisiert, deren Darstellung auf Wirkung abgestellt ist. Sie sind deshalb aktuell immer wieder im Fokus von Untersuchungen, die der Schnittstelle von Repräsentation, Politik und Affekt und damit dem Verhältnis der Macht der Gefühle und ihrer Gemachtheit gewidmet sind. Auch zur Ideologie der imagined community gehört es, dass deren ‚Gemachtheit‘ verschleiert oder gar geleugnet werden muss, so dass im Bereich politischer Affekte ein Grenzbereich unkontrollierbarer oder ambivalenter Affektwirkungen nicht auszuschließen ist. Beasley-Murray spricht hier vom affektischen escape: Der Affekt geht zwar Hand in Hand mit der Emergenz von sozial-politischen Strukturen, muss aber nachträglich zur Vorstellung eines Staates transzendiert werden. Dieser leugnet die eigene, irrationale Entstehungs-‚Geschichte‘, ohne deren affektisches Erbe jedoch ganz eindämmen zu können.

Man könnte allerdings auch von einer Reaktivierung der affektischen Entregelung sprechen, die diese offizielle Geschichtsdarstellung begleitet: Denn die Aktivierung eines affektiven Ressorts nationaler Geschichte zählt zu denjenigen immanenten Prozessen, die der Institutionalisierung von Gemeinschaft nicht vorgängig, sondern zeitgleich oder nachträglich sind. Je nach Kontext und Intention kann diese Identifikation mit Geschichte sowohl libidinös-fundational, ja nachgerade pädagogisch wirken, oder phobisch-destruktiv. Ein historisches Beispiel dafür sind die Darstellungen der revolutionären Liberté in Frankreich, die sich mit Delacroix’ visuellem Code in ein westliches Bildgedächtnis eingeschrieben haben – und bei der Marche républicaine in Paris nach den Anschlägen vom Januar 2015 wieder evoziert werden konnten. Dabei ist jedoch nicht zu vernachlässigen, dass bereits zeitgleich zur Revolution 1789 von Seiten französischer Konterrevolutionäre zahlreiche Karikaturen und Pamphlete folgen, die einer Identifikation des französischen Volkes mit der eigenen Staatsform zuwider laufen. Ganz im Gegenteil verbreiten die bildlichen Darstellungen der Revolution, die ihre Kinder frisst und ein starkes monarchisches Frankreich ‚entmannt‘ hat, Schrecken und mithin: phobos.

An dieser Stelle gilt es auch das Verhältnis von Bild-Darstellung, Vorstellungsbildern und ihren Narrationen zu klären. So lässt sich etwa kaum leugnen, dass Zolas Neuauflage der Liberté von Delacroix in La fortune des Rougon (1871) beinahe visuelle Qualität entfaltet: Hier ist es die junge Miette, die 1851 noch einmal das Volk gegen die Soldaten von Louis-Napoléon Bonaparte anführt, dabei aber einen detailliert beschriebenen, schmählichen Tod sterben muss. Die Ästhetik der exzessiven Beschreibung, wie sie der französische Naturalismus bei Zola entwickelt, steht also gewissermaßen im Zeichen einer affektisch besetzten Visualisierung französischer Geschichte. Daran ließe sich beschreiben, wie Geschichte und ihre Verwandlung in ideologische Mytheme im Sinne einer Ermöglichungs- und/oder Verhinderungsstruktur ästhetischer Formen wirken – so dass ästhetische (Text-)Bilder keineswegs einfach im ideologischen Mythos aufgehen. Wir wollen uns daher aus dezidiert interdisziplinärer Perspektive mit der Frage beschäftigen, wie Texte Bilder erzeugen, wie Bilder Geschichte(n) erzählen, wie mit Bildern Politik gemacht wird und welche Bedeutung hierbei dem Affekt zukommt.

Interessierte Gasthörer sind zu den Vorträgen herzlich eingeladen. Eine Tagungsgebühr wird nicht erhoben.

PROGRAMM

SUNDAY 4 Oct.
6:00 PM GET-TOGETHER

MONDAY 5 Oct.
I. Representation, Visuality, and Affect
with Jon Beasley-Murray and Karin Peters

9:00 AM Opening Discussion
9:45 AM Coffee Break
10:00 AM Opening Statement by Jon Beasley-Murray and Discussion of Reader Material
11:45 AM Coffee Break
12:00 PM JOSHUA SYNENKO (Trent University, Canada) – Affect and Citizenship in the Intermedial Arts. Yael Bartana’s Settler Imperative
1:30 PM Lunch Break
3:00 PM NA’AMAN HIRSCHFELD (HU Berlin, Germany) – Mythistory in Michel de Certeau’s The Writing of History
4:30 PM KATHARINA WORMS (Universität Trier, Germany) – Geschichtsdarstellung und politischer Affekt in Lohensteins Trauerspielen
6:00 PM Break
7:00 PM Public Lecture JON BEASLEY-MURRAY – The Affect of Ruins
8:00 PM Reception

TUESDAY 6 Oct.
II. Bodily Distance and/or Violent Close-up
with Karin Peters

9:00 AM Opening Statement by Karin Peters and Discussion of Reader Material
10:15 AM Coffee Break
10:30 AM MARINA BUCH (JGU Mainz, Germany) – Le retour du « Péril jaune »? La hantise de l’« Autre » en France dans le contexte historique de la guerre russo-japonaise (1904/05)
12:00 PM Lunch Break
1:00 PM LENA SEAUVE (HU Berlin, Germany) – Geschichtsnarrative aus der Sicht der Täter: Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes (2006) und seine Poetik der negativen Affizierung
2:30 PM Coffee Break
3:00 PM FLORENCE LHOTE (Université Libre de Bruxelles, Belgium) – Écrire l’Histoire à distance: quelle implication en termes d’affectivité partagée?
4:30 PM PEDZISAI MAEDZA (University of Cape Town, South Africa) – ‘Edinburgh’s most controversial show’: performance (mis)readings of the colonial archive

WEDNESDAY 7 Oct.
III. Visual Strategies – Challenging the Collective Memory
with Susanne Mersmann

9:00 AM Opening Statement by Susanne Mersmann
9:30 AM ISABELLE LE PAPE (Bibliothèque Nationale de France, Paris, France) – Face à l’histoire: posture de trois artistes allemands contemporains (Thomas Demand, Anselm Kiefer, Gerhard Richter)
11:00 AM Coffee Break
11:30 AM Discussion of Reader Material
12:00 PM RAHUL DEV (Jawaharlal Nehru University, New Delhi, India) – Framing Affect: Visual Representation of Dalits
1:30 PM Lunch Break
2:30 PM Excursion to Frankfurt (The 80s. Figurative Painting in West Germany, Städel Museum)

THURSDAY 8 Oct. (P 208 until 1:45 pm)
IV. Revolution, Revolt, and Crisis
with Philip Manow and Lisa Zeller

10:30 AM Opening Statements by Philip Manow & Lisa Zeller and Discussion of Reader Material
12:00 PM Coffee Break
12:15 PM DOROTHÉE LANNO (Université de Strasbourg, France) – L’histoire vue sous l’angle de l’intimité: représentations de scènes familiales sous la Révolution française
1:45 PM Lunch Break
3:00 PM CLARA ZGOLA (CRAL Paris, France) – L’impact affectif de l’imaginaire de la révolte urbaine de la Commune de Paris à nos jours sur la production littéraire française contemporaine
4:30 PM VEDRAN OBUCINA (University of Rijeka, Croatia) – Images of the Islam Republic. The mural art of Tehran
6:00 PM Break
7:00 PM Conference Dinner

FRIDAY 9 Oct.
V. Myth and Ideology in Popular Culture
with Stephanie Wodianka and Julia Brühne

9:00 AM Opening Statements by Stephanie Wodianka & Julia Brühne and Discussion of Reader Material
10:15 AM Coffee Break
10:30 AM SIGRUN LEHNERT (Hamburg Media School, Germany) – Der wirtschaftliche Aufschwung in der Kinowochenschau der 1950er/1960er Jahre
12:00 PM Lunch Break
1:00 PM IVAN LIMA GOMES (State University of Goias, Brazil) – Images of the new men of tomorrow: childish nationalpopular culture and Latin American comics during the Cold War
2:30 PM Coffee Break
3:00 PM ANNA HUBER (Universität Trier, Germany) – Die Interdependenz von Gender-Transgression und Politisierung: Jeanne d’Arc in Drama und Film der Gegenwart
4:30 PM SUSANNE RITSCHEL (TU Dresden, Germany) – Krisen-close-up: Portugal in der Selbstdiagnose
6:00 PM Closing Statements & Discussion

KONTAKT:

Dr. Karin Peters, Romanisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Telefon: +49 (0)6131-39-27268, E-Mail: peterska@uni-mainz.de
Dr. Julia Brühne, Tel.: +49 (0)6131-39-20761, E-Mail: bruehne@uni-mainz.de
Lisa Zeller, M.A., Tel.: +49 (0)6131-39-25504, E-Mail: lizeller@uni-mainz.de
Dr. Susanne Mersmann, E-Mail: Susanne.Mersmann@gmx.de

Beitrag von: Karin Peters

Redaktion: Lars Schneider