Stadt: Berlin

Frist: 2015-12-15

Beginn: 2016-06-16

Ende: 2016-06-17

Tagung am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung ZfL Berlin, 16./17.Juni 2016
Organisiert von Yael Almog, Caroline Sauter, Daniel Weidner

Keynote Speakers:
Jonathan Sheehan (Berkeley), Wolfgang Braungart (Bielefeld)

CALL FOR PAPERS

In den letzten Jahrzehnten gibt es in der kritischen Theorie wie auch in der politischen Theorie, der Philosophie, der Kulturwissenschaft und der Literaturtheorie eine Wiederkehr der Religion zu verzeichnen: In den Werken so unterschiedlicher Autoren wie Giorgio Agamben, Alain Badiou, Harold Bloom oder Talal Asad ist die Religion so wichtig, dass bisweilen von einem religious turn (oder auch theological turn) gesprochen wurde. Der wissenschaftliche Diskurs über Religion an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen versucht neben vielem anderen, einen der fundamentalen Begriffe der Religion neu zu konturieren: „heiliger Text“. In verschiedenen Disziplinen – Theologie und Religionswissenschaft (Kablitz/Markschies 2013), Philosophie (Rancière 1998), Literaturtheorie (Emily Apter 2013), Soziologie (Tomoko Masuzawa 2005) und politische Theorie (Saba Mahmood 2006) – ist die Rede von „heiligen Texten“, doch der Begriff wird dabei meist unhinterfragt vorausgesetzt. Diese symptomatische Leerstelle wollen wir zum Anlass nehmen, um die Rede von „heiligen Texten“, sowie die daraus folgenden Praktiken, seit der Moderne zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen. Exemplarisch wollen wir am Begriff „heilige Texte“ die Spannungen beobachten, die einem solchen Rückgriff auf den religiösen Diskurs innewohnen. 

Die Moderne stellt einen Wendepunkt im Umgang mit dem Konzept „heiliger Text“ dar. Insbesondere ab dem 19. Jh. vollzog sich eine fundamentale Veränderung in Bezug auf die heiligen Texte der jüdisch-christlichen Tradition: Europäische Philologen, Theologen, Orientalisten, Historiker und Philosophen entwickelten eine neue Bibelkritik, in der die Bibel als menschengemachten Kulturgut statt als göttliche Offenbarung betrachtet wurde. Somit wurde der autoritäre Status der heiligen Schriften hinterfragt und die Bibel wurde zum akademischen Studienobjekt. Jedoch zeigt sich dabei eine Spannung: Einerseits sind wichtige Paradigmen des modernen Umgangs mit Texten in der religiösen Tradition entstanden; so gehören die traditionellen Textpflege, die Homiletik und die Kommentartradition, die Hermeneutica und Philologia Sacra der Frühen Neuzeit zu den wichtigsten Ursprüngen der modernen Philologie. Andererseits lösen sich diese Verfahren in der Moderne aus ihrem religiösen Kontext, und die Philologie wird als Wissenschaft verstanden, die durchaus in Kontrast zur religiösen Praxis stehen kann.

Mit Beginn der Moderne wurden „heilige Schriften“, im jüdisch-christlichen Kontext insbesondere die Bibel, also zu einem allgemeinen Kulturgut. Der Hintergrund dafür war, dass die ästhetischen Eigenschaften der Bibel in den Vordergrund rückten und nicht mehr zwangsläufig die religiösen Aspekte an erster Stelle standen. Diese veränderte Sichtweise manifestiert sich besonders in der Literatur. Dabei zeigt sich in der literaturgeschichtlichen Entwicklung, dass der Umgang mit heiligen Schriften selber unterschiedliche literarische Konventionen hervorbringt. So sind etwa in der Romantik verstärkt ‚prophetische‘ Erzählstimmen zu beobachten, die sich teils explizit auf die biblische Tradition beziehen (bspw. bei Herder und Hölderlin), was in späteren Epochen, etwa dem literarischen Realismus, nicht mehr der Fall ist. Darüber hinaus ist der Umgang mit heiligen Schriften auch kulturpolitisch relevant: Kanonisierungsbestrebungen wie etwa Klassikerausgaben orientieren sich methodisch an der Bibelphilologie. Die Kanonisierung der Bibel als literarisches Werk in den Curricula westlicher Akademien oder im Kanon der „Weltliteratur“ – in den Werken solcher Autoren wie J.W. Goethe, Matthew Arnold oder Erich Auerbach – spricht hingegen nicht mehr von der „Heiligkeit“ der Texte, sondern stattdessen von ihrer literarischen Qualität. Dies bedingt den im 20./21. Jh. verstärkt erforschten Bereich Bible as literature.

Die Tagung untersucht daher, wie unter Bedingungen dieser Moderne in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Diskursen von „heiligen Texten“ gesprochen wird, und welche Praktiken der Textdeutung, beschreibung und anwendung daraus folgen. Uns interessiert dabei zum einen die Frage, welche Bedeutungen Denkfiguren und Praktiken aus der religiösen Textkultur für die Entwicklung der modernen Texttheorie haben, andererseits jedoch fragen wir auch danach, welche Relevanz das Erbe der Moderne für unsere heutigen Debatten in den Geistes- und Kulturwissenschaften besitzt. Somit wollen wir die Vorstellungen über Lektüre, Interpretation, Kanon und Bedeutung betrachten, die sich mit der Rede von „heiligen Texten“ verbinden oder durch diese wesentlich bestimmt sind, und die in den heutigen Debatten um Weltliteratur und Hermeneutik, aber auch im interreligiösen Dialog womöglich nachleben.

Mögliche Leitfragen sind dabei: Wie beziehen sich verschiedene Konfessionen und Gläubige seit der Moderne auf das Konzept des „heiligen Textes“, und wie manifestiert sich dies in ihrer jeweiligen Kultur- und Literturproduktion? Welche literarischen Beispiele zeugen von den Herausforderungen, die in der Moderne an den Begriff „heiliger Text“ gestellt werden? Welche Rolle spielt der Begriff in aktuellen Debatten um Weltliteratur und Kanon, beispielweise in der postkolonialen Kritik des (welt-)literarischen Kanons? Wie beziehen sie sich neue literarische Gattungen bzw. neue literarische Normen auf eine veränderte theologische Sichtweise „heiliger Texte“?

Wir laden interessierte WissenschaftlerInnen aller Disziplinen und Fachrichtungen ein, Vortragsvorschläge zu diesen und weiteren passenden Themen einzureichen. Abstracts (max. 300 Wörter) werden bis zum 15.12.2015 erbeten an Dr. Yael Almog (almog@zfl-berlin.org) und Dr. Caroline Sauter (sauter@zfl-berlin.org). Die Keynote Lectures werden von Prof. Jonathan Sheehan (Berkeley) und Prof. Wolfgang Braungart (Bielefeld) gehalten.

Bitte beachten Sie, dass Reisekosten der TeilnehmerInnen nach Berlin nur in besonderen Fällen übernommen werden können.