Am 25. Juli 2016 ist Joachim Schulze nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Noch in den letzten Jahren konnte man ihn, wohlauf, wissbegierig und im kollegialen Gespräch offen wie eh und je, bei seinen Recherchen in der Bibliothek des Romanischen Seminars antreffen. Er nutzte sie, um seine Forschungsfelder zu vertiefen und weiterzutreiben. Die Philologie, die Liebe zum geschriebenen und vorgetragenen Wort im Sinne einer Präzisierung von Bedeutung und Umfeld, hat ihn bis ins hohe Alter beschäftigt, und sie ist seine Passion geblieben.

Geboren wurde Joachim Schulze 1938 in Duisburg-Hamborn. 1958 begann er sein Studium der Romanistik und der Germanistik in München. Er erweiterte und beendete es 1966 in Bonn mit einer Promotion bei Karl Maurer und wurde – ein Jahr nach Gründung der Ruhr-Universität Bochum – dessen Assistent an dem gerade eingerichteten Lehrstuhl. Nach der Habilitation 1974 wurde er 1976 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt. Im engen Kontakt mit der Zeitschrift Poetica, der er viele seiner zahlreichen Aufsätze anvertraute, und damit auch im engen Kontakt mit manchen Bochumer Protagonisten der Gattungs-, Form- und Funktionsforschung, setzte er seine eigenen Akzente in Forschung und Lehre, die in besonderem Maße Themen der älteren, aber auch der neueren italienischen Literatur galten.

Dabei war seine Dissertation einem Sujet der französischen Romantik gewidmet. Mit Enttäuschung und Wahnwelt. Studien zu Charles Nodiers Erzählungen, 1968 als erstes Beiheft der zuvor gegründeten Poetica erschienen, ging er bezeichnenderweise eine Epoche an, in der sich Tradition und Moderne, alte Form und neue Funktion, regelhafte Mimesis und entgrenzende Imagination berühren. So interpretiert Joachim Schulze Nodier nicht als Neuerer, sondern als Experi-mentator, der mit den Texten Chateaubriands, Bernardin de Saint-Pierres, Rousseaus, Goethes und vieler anderer transformierend umging. Bevor Intertextualität eine modische Methode wurde, hat er sie an der dialogischen Einverleibung von vorauslaufenden Textmotiven und Textformen vor Augen geführt.

In der Habilitationsschrift Formale Themen in Gian Battista Marinos ‚Lira‘, 1978 als 14. Beiheft zu Poetica erschienen, kristallisiert sich ein Interesse an der Gattungstheorie heraus, das auch in zahlreichen späteren Arbeiten erhalten bleibt. Die Sonette in Marinos Sammlung werden weniger unter Gesichtspunk-ten eines barocken Stils, sondern mehr in Hinsicht auf den Variantenreichtum einer postulierten ‚inneren Form‘ des Sonetts und ihrer Ursprünge interpretiert. Damit ist schon der Bogen geschlagen zu einem Arbeitsfeld, das Joachim Schulze bis in seine Jahre des Forschens nach dem Ruhestand angetrieben hat: Formen, Funktionen und Kontexte der Lyrik, vor allem soweit diese sich für manche Positionen der Forschung mit und seit der Sizilianischen Dichterschule als literarisch eigenständig und medial autonom zu definieren scheint. Diesem Schein hat Joachim Schulze mit freundlicher Skepsis, Beharrungsvermögen und quellenorientierten Studien stets misstraut. Dass die literarische Kunst par excellence, die Lyrik, eng mit anderen Künsten verschwistert ist, zumal mit der Musik, und dass sie in ihrem Formenreichtum sowohl auf rhetorische Aneignung von Vorgegebenem als auch auf performative Durchführung unter konkreten sozialen Bedingungen angewiesen ist, wurde einer seiner Leitgedanken. Joachim Schulze verfolgte ihn in drei weiteren Büchern, von denen zwei in den Beiheften zur Zeitschrift für Romanische Philologie erschienen sind. Scharfsinnig, mit weitem Wissenshorizont und deutlichem Unbehagen an den sich verfestigenden Topoi der philologischen Forschung ist er in diesem Zusammenhang der These einer genuinen literarischen Autonomie der Anfänge der italienischen Lyrik entgegengetreten. Deren Beziehungen zum provenzalischen Minnesang konnte er so als weitaus enger und vor allem vermittelt durch das Bindeglied der Sangbarkeit konturieren. Indem er den modernen Mythos eines ‚divorzio‘ von ‚musica und poesia‘ widerlegte und vielfältige Formen kontrafaktischer Bezie-hungen freilegte, hat er der frühen italienischen Lyrik deutlich mehr von deren ‚Sitz im Leben‘ zurückerstattet als es die kühnen Thesen von der frühen sprach-lichen Autonomie vermocht haben.

Die Wege in die Moderne verliefen bei Joachim Schulze, angestoßen durch die frühen Romantik-Forschungen, über verschiedene Stationen. Montale, dessen dunklen Anfängen er wiederum ein Buch widmete (1983), ist da zu nennen, aber auch Baudelaire und dann vor allem Pavese. Seiner Lyrik und deren Analogien zur Korrespondenzpoetik Baudelaires, aber auch seinen Erzählungen galt sein besonderes Augenmerk. Allerdings konnte er seine Forschungen hierzu nicht mehr veröffentlichen.

Das Aufsatzwerk ist vielfältig, bewegt sich vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in die Moderne. Es verteilt sich auf mehrere große Zeitschriften, und umfasst auch komparatistische und germanistische Themen. Sowohl die mittel-alterliche Minnelyrik als auch das Werk Paul Celans haben Joachim Schulze immer wieder herausgefordert und zu sensiblen und scharfsinnigen Deutungen geführt. Das wachsende Interesse an der Moderne und ihren Spannungen im Verhältnis zur Tradition hat aber seine grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber modernistischen Neuerungen im Wissenschaftsbetrieb nie zum Erlöschen bringen können. Pointiert, aber auch nachsichtig ironisch begegnete er – in akademischer Selbstverwaltung und in der wissenschaftlichen Diskussion – aufgeblähten Ansprüchen, die nicht einzuhalten waren. Die Präzision in der Aussage und das Geltendmachen von guten Gründen sind ein Ideal gewesen, dem er selbst immer treu geblieben ist und das er im Kollegenkreis stets bei seinem Gegenüber vorausgesetzt hat – heiter, aufmerksam und gelegentlich an die Kernaufgaben der philologischen Wissenschaften erinnernd. So hat Joachim Schulze über Jahr-zehnte hinweg die Bochumer Romanistik mitbestimmt und vor allem dem italianistischen Bereich eine differenziert profilierte Kontur verliehen. Das Romanische Seminar der Ruhr-Universität betrauert mit seiner Witwe, Dr. Elisabeth Schulze-Witzenrath, seinen Tod.

Rudolf Behrens, im August 2016

Beitrag von: Lars Schneider

Redaktion: Lars Schneider