Stadt: Zürich

Frist: 2016-12-15

Beginn: 2017-10-08

Ende: 2017-10-12

URL: http://www.deutscher-romanistenverband.de/romanistentag/zuerich-2017/

Sektionsleitung: Inga Hennecke (Universität Tübingen), Eva Varga (Universität Tübingen)
Kontakt: inga.hennecke@uni-tuebingen.de / eva.varga@uni-tuebingen.de

In jeder Sprechergemeinschaft gibt es sowohl positiv als auch negativ besetzte Dialekte, Regiolekte, Soziolekte und (Kontakt)varietäten, wobei diese Wahrnehmungen eng mit der sprachlichen Sicherheit bzw. Unsicherheit der Sprecher verbunden ist. Das Konzept der sprachlichen Unsicherheit (insécurité linguistique/inseguridad lingüística/insegurança linguística/incertezza linguistica) geht auf Labov (1966) zurück. Es zeichnet sich durch eine doppelte Wahrnehmungsperspektive aus. Zum einen wird der sprecherinternen Perspektive Ausdruck verliehen. Sprachliche Unsicherheit tritt auf, wenn Sprecher ihre Art zu sprechen als mangelhaft oder minderwertig einstufen und Kenntnis von einem prestigeträchtigeren Modell haben, das sie allerdings nicht praktizieren (vgl. Calvet 1993: 50). Die Unsicherheit basiert auf Vorstellungen über die sprachliche Norm, auf emotionalen Einstellungen gegenüber dem Gebrauch von Sprache und auf Handlungen, die mit diesem Gebrauch verbunden sind (vgl. Kessler 2009: 35). Zum anderen ist sprachliche Unsicherheit auch aus sprecherexterner Perspektive zu definieren, als objektiv bewertete Sprecherkompetenz in Bezug auf die jeweils geltende Norm. Sie beschreibt eine Abweichung bei der Realisierung sprachlicher Äußerungen von der Norm. Beide Perspektiven trugen in der Vergangenheit zur Definition und Ausweitung des Konzepts der sprachlichen Unsicherheit bei, allerdings wurden sie unterschiedlich gewichtet und bewertet, führten zu diversen Klassifizierungen und einer umfassenden, jedoch nicht einheitlich gebrauchten Terminologie (Calvet 1993, Robillard, 1996, Moreau 1996, De Matteis 2010, u.a.).
Aufgrund der bestehenden terminologischen und definitorischen Diversität möchten wir in unserer Sektion einerseits Definitionen und Klassifizierungen diskutieren, um zu größerer theoretischer Transparenz und Schärfe zu gelangen. Andererseits soll das Thema in einen weit gefassten Forschungsrahmen eingebettet und zu verwandten theoretischen Konzepten (Sprechereinstellungen, linguistische Stereotype, u.a.) abgegrenzt werden.

Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen zielt unsere Sektionsarbeit darauf ab, an zentrale Themen und Arbeitsfelder der Forschung zur sprachlichen Unsicherheit anzuknüpfen. Thematisch grundlegend ist die Frage nach den soziolinguistischen Kontexten, in denen sprachliche Unsicherheit auftritt. Hierzu zählen u.a. Migration, Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Diglossie, die Existenz verschiedener Normen, sowie Sprachwandel und Sprachausbau. Im Migrationskontext tritt sprachliche Unsicherheit vermehrt in Zusammenhang mit sozialer und identitärer Unsicherheit auf. In Sprachkontaktsituationen und Situationen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit führen insbesondere die Existenz einer Regional- und/oder Minderheitensprache, sowie ein reduzierter Kontakt zur präskriptiven Norm zur Verunsicherung der Sprecher im Umgang mit ihrer Sprache. An die Frage nach den Kontexten schließt sich die Frage nach den Ursachen für sprachliche Unsicherheit an. Einerseits wird die Unsicherheit durch die Existenz einer Norm hervorgerufen, die der Sprecher subjektiv nicht erreichen kann und häufig idealisiert. In diesem Fall entsteht das unsichere Gefühl beim Sprecher selbst, erzeugt durch den Versuch seine eigene Sprache an der Norm auszurichten. Andererseits wird sprachliche Unsicherheit durch Autoritäten und Institutionen, wie Bildungseinrichtungen, Presse, öffentlicher Diskurs etc. erzeugt. Hier wird das positive Prestige der Norm an den Sprecher herangetragen und jede Normabweichung stigmatisiert. Auch die Beschreibung und Erfassung betroffener Sprechergruppen ist in der Forschung zu sprachlicher Unsicherheit ein zentrales Thema. Besonders betroffen scheint die soziale Mittelschicht (z.B. Labov 1966), ebenso Migranten der zweiten Generation, Minderheiten, aber auch altersspezifische Sprechergruppen (z.B. Calvet 2006, Carrera-Sabaté 2005). Außerdem wurde vermutet, dass Frauen gegenüber Männern häufiger unsicher im Gebrauch ihrer Sprache sind (z.B. Labov 1966, Trudgill 1974). Zu diskutieren ist außerdem die Frage, wie sich die Unsicherheit sprachlich konkret äußert und welche Ebenen der Sprache sie betrifft. Die bisherige Forschung zeigt, dass Unsicherheit vor allem in Bezug auf das Lexikon und die Phonetik/Phonologie auftritt (z.B. Carrera-Sabaté 2005). Zu identifizieren ist sie durch vermehrt auftretende Hyperkorrekturen, Autokorrekturen und durch Registerwechsel. Zuletzt zielt die Sektionsarbeit auch darauf ab, Maßnahmen zum Abbau von sprachlicher Unsicherheit aufzuzeigen und zu thematisieren. Darunter fallen Sprachplanung, Sprachpolitik oder Didaktik.

Im Hinblick auf die romanistische Forschung ergibt sich aus unseren Feststellungen ein weit gefächertes Spektrum an Fragen, von denen wir nur einige skizzieren möchten: Ist der Begriff der sprachlichen Unsicherheit tatsächlich angemessen für die objektiv gemessene Sprachkompetenz oder sollte er ausschließlich für die Beschreibung der subjektiven Empfindung dienen? Welche Definitionen von sprachlicher Sicherheit (u.a. Bretegnier 2002) scheinen uns angebracht, um den Gegenbegriff angemessen beschreiben zu können? Welche empirischen Methoden lassen sich zur Feststellung und Einstufung von sprachlicher Unsicherheit anwenden? Lässt sich sprachliche Unsicherheit messen? In welchem Zusammenhang stehen sprachliche, soziale, identitäre und kulturelle Unsicherheit? Inwieweit ist sprachliche Unsicherheit ein Auslöser für die Entstehung neuer Varietäten? Inwieweit hat sprachliche Unsicherheit in der Vergangenheit Sprachwandelprozesse beeinflusst?

Die skizzierten Fragestellungen deuten an, dass das Thema der sprachlichen Unsicherheit in vielen Bereichen der romanistischen Forschung präsent ist. Ihm wurde bis jetzt jedoch kein panromanistisches Diskussionsforum geboten. Diese komparative Perspektive erscheint uns notwendig und gewinnbringend für neue Impulse im Forschungsfeld.

Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 500 Wörter) für einen 20minütigen Vortrag (+ 10 Minuten Diskussion) sowie eine kurze biographische Notiz bis zum 15.12.2016 per Email an inga.hennecke@uni-tuebingen.de oder eva.varga@uni-tuebingen.de .

Beitrag von: Inga Hennecke

Redaktion: Marcel Schmitt