Seit vielen Jahrhunderten erfolgt eine Rekonstruktion des Mythos der Antigone – mit der Tragödie des Sophokles als Prototyp – in den unterschiedlichsten Kontexten. Während in Frankreich und Italien Antigone-Adaptationen seit der Frühen Neuzeit zu finden sind, setzte in der spanischsprachigen Welt die Auseinandersetzung mit der Figur der Antigone spät ein. Vor allem in Lateinamerika entwickelte sich Antígona jedoch ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer selbständigen, vom Sophokleischen Vorbild nahezu losgelösten Figur des politischen Protests und Widerstands, vor allem von Frauen, gegen politische, ökonomische und soziale Missstände, gegen Gewalt, Staatswillkür und Diskriminierung. Dies geschieht zumeist in einem kolonialen und postkolonialen Kontext, in dem es um Dekolonialisierung, nationale Identität (Marechal, Antígona Vélez) und Erneuerung (Orizondo, Antigonón) geht. Gleichzeitig werden der staatliche Terror (Gambaro, Antígona furiosa), Drogenkartelle (Uribe, Antígona González), aber auch patriarchale Strukturen (Huertas, AntígonaS: linaje de hembras) und Kapitalismus (López Montañer, El thriller de Antígona) angeprangert. Inhärent sind diesen Texten der Aspekt der Rekonstruktion und Erneuerung mit der Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Eine große Anzahl von Adaptationen findet sich im hispanoamerikanischen Raum, jedoch auch in der Frankophonie mit maghrebinischen, karibischen und subsaharischen Beispielen (Amrouche, Antigone à Alger, Morisseau-Leroy, Antigone en Créole, Bemba, Noces posthumes de Santigone), in Hispanoafrika (Morgades Besari, Antígona) und in der Lusophonie (Andrade, Pedreira de Almas).

Die Sektion widmet sich der Frage, warum und in welchen Ausprägungen der Antigone-Mythos der Antike im postkolonialen Kontext zu einer populärkulturellen Figur des Widerstands führt. Warum wird die Sophokleische Antigone, die sich weigert, das Bestattungsverbots ihres Onkels und Herrschers zu akzeptieren und dafür mit dem Tod bestraft wird, zu einer Lichtgestalt des politischen Protests und der Befreiung von kolonialen Abhängigkeiten? Wie ist die durchaus ambivalente Doppelstruktur der Würdigung und Unterminierung von Aspekten einer „westlichen“ Hegemonie sowie der daraus resultierenden Dezentrierung eines „westlichen“ Kanons zu verstehen (vgl. Mee/Foley 2011: 3-4)?

Durch den Transfer des antiken Mythos in die postkoloniale Gesellschaft wird die Figur der klassischen Antigone dekonstruiert und deterritorialisiert; gleichzeitig erfolgt eine Rekonstruktion und Reterritorialisierung unter anderen Vorzeichen. Wiederaufbau und Erneuerung spielen auch im politischen Gehalt der Adaptationen eine herausragende Rolle: Steht neben der Kritik an der Gesellschaft immer zugleich die Hoffnung auf Änderung und den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung.

Der Fokus der Sektion liegt auf der Literaturwissenschaft. Gleichzeitig können kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Fragestellungen angesprochen werden, etwa zur Frage der Relevanz von Klassikern und ihren postkolonialen Adaptationen im Unterricht. Neben dem politisch-historischen Gehalt einzelner Varianten und dem Rückbezug auf europäische Versionen sollen insbesondere die Süd-Süd-Beziehungen in den Blick genommen werden sowie die Diskussion postkolonialer Fragestellungen von Europa aus (Ost, Antigone voilée). Vor dem Hintergrund der Doppelstruktur von Würdigung und Unterminierung ist für die Sektion zusätzlich die gattungs- und medientheoretische Reflexion von Relevanz. So scheint der Transfer der Antigone in postkoloniale Welten einher zu gehen mit einem Transfer vom Theater in andere Gattungen, z.B. in die Performance, in Blogs (Gómez, Antígona Gómez) oder den Roman (Nshimirimana, Lettre à Isidore). Hier sollen Voraussetzungen und Konsequenzen der doppelten De- und Reterritorialisierung von Gattung und Mythos in den Blick genommen werden.

Sektionsleitung: Anne Brüske (Universität Heidelberg), Ingrid Simson (Freie Universität Berlin)

Bitte schicken Sie Ihr Abstract unter Angabe des Titels sowie von Namen und Kontaktdaten des/der Vortragenden bis zum 31. Dezember 2018 an Ingrid Simson (ingrid.simson@fu-berlin.de).

Kurzbibliographie
Butler, Judith (2000): Antigone’s claim. Kinship between life and death. New York: Columbia University Press.
Chanter, Tina (ed.) (2011): Whose Antigone? The tragic marginalization of slavery. Albany: SUNY Press.
Honig, Bonnie (2013): Antigone, Interrupted. Cambridge: Cambridge University Press.
Mee, Erin B./Foley, Helene P. (eds.) (2011): Antigone on the contemporary world stage. Oxford: Oxford University Press.
Steiner, George (1988): Die Antigonen: Geschichte und Gegenwart eines Mythos,. München: Hanser.

Beitrag von: Ingrid Simson