„All der alten Bücher zum Thema Narrativität und all der neuesten Essays über das storytelling zum Trotz, ist es bisher noch niemandem gelungen genau zu bestimmen, was eine Erzählung zu leisten vermag“ (1): diese Feststellung Yves Cittons gibt uns weniger Anlass zur Resignation als einen Fingerzeig, der auf die Notwendigkeit und Chance verweist, erneut über das Wirkungspotential von Erzählungen zu reflektieren. Eine solche Reflexion erscheint heutzutage umso legitimer als bereits seit gut drei Dekaden in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine „narrative Wende“ (M. Kreiswirth) am Wirken ist (2). Das wiedererwachte und stetig wachsende Interesse an der Narration spiegelt sich in der „Omnipräsenz der Erzählung“(3) sowohl in akademischen als auch in außerakademischen Kontexten wider. Tatsächlich haben die Thesen von Paul Ricœur und Hayden White zur Existenz einer „pränarrativen Struktur der Erfahrung“ (4) eine derartig große Wirkung entfaltet, dass es heutzutage kaum möglich wäre, über unsere Beziehung zur Welt zu reflektieren, ohne im Vorfeld die strukturbildende Kraft von Erzählungen miteinzubeziehen. Dementsprechend verweist auch Bruno Latour in seinen soziologischen und ethnographischen Schriften wiederholt auf die zentrale Bedeutung, die Erzählungen innerhalb einer Gesellschaft zukommt: „Von der griechischen Tragödie bis zu den Comic Strips stellen Romane, Theaterstücke und Filme ein riesiges Terrain bereit, auf dem wir alle lernen auszudrücken, was uns zum Handeln bringt“(5). Einerseits stellt die Erzählung laut Latour eine wichtige analytische Kategorie dar, mit der sich die Strukturierung und Gruppierung diverser sozialer Kategorien inmitten der Gesellschaft untersuchen lassen; andererseits versteht er die Erzählung aber auch als bevorzugtes Forschungsobjekt der Sozialwissenschaften, und zwar mit Blick auf die Fähigkeit von Erzählungen, als „Akteure“ auf den sozialen Raum einzuwirken. Diese zweifache soziologische Relevanz der Narration verweist uns, laut Latour, auf die Notwendigkeit, das sozialwissenschaftliche Analyseinstrumentarium mit den Mitteln der Erzähltheorie zu erneuern, um der Vielfalt und Komplexität gesellschaftlicher Phänomene gerecht werden zu können.

Dieser geistes- und sozialwissenschaftlichen Hinwendung zum Narrativen ist es geschuldet, dass die Erzählung die engen Schranken literarischer Textualität überwinden konnte, in die der Strukturalismus sie zeitweilig verwies. Als Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschung konnte die Erzählung neue Räume erobern, die ihr zuvor noch verschlossen schienen. In diesem Sinne ist die „Kunst des Erzählens“, wie Christian Salmon in seinem Bestseller Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits (2007) betont, inzwischen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vorgedrungen, selbst in die Sphäre der Mächtigen aus Wirtschaft und Politik. Laut Salmon bedienen sich Politiker seit Bushs Wahlkampf im Jahre 2004 regelmäßig narrativer Praktiken, um das Verhalten der Bürger im sozio-politischen Raum zu lenken (6). Die Kunst des Erzählens stellt sich hier insofern als besonders wirkmächtig heraus, als die Geschichten darauf ausgelegt sind, Verhaltensnormen zu vermitteln, die das Verhalten tatsächlicher und potentieller Wähler auf eine (voraus-) bestimmte Bahn lenken sollen.

Das Kolloquium bietet den Teilnehmer*innen die Gelegenheit, sowohl auf die Wirkmächtigkeit von Erzählungen zu reflektieren als auch auf die Arten und Weisen, mit denen politische Akteure sich Narrationen zu eigen machen und diese in Umlauf bringen. Das Kolloquium bildet einen Schnittpunkt zwischen der ersten und vierten Forschungsachse des Marc Bloch-Zentrums, insofern die Erzählung sowohl als narrative Dimension der „Krise und Konstitution gesellschaftlicher Ordnungen“ (1. Forschungsachse) als auch als Medium des „Wissenstransfers“ (4. Forschungsachse) in Europa in den Blickpunkt der Analyse gerückt wird – und zwar aus deutsch-französischer Perspektive. Dementsprechend sind die Verkehrssprachen des Kolloquiums Deutsch und Französisch und die Teilnehmer*innen sind gebeten, ihre Analysen auf den deutsch-französischen Kulturraum zu beziehen. Die „Macht von Erzählungen“ als Untersuchungsgegenstand lässt sich in drei Forschungsfelder unterteilen:

1) Macht von Erzählungen: Welchen Einfluss üben Erzählungen auf die Gestaltung sozialer und politischer Räume aus? Inwiefern bilden Erzählungen nicht bloß mimetisch einen gesellschaftlichen Status ab, sondern entwickeln in performativer Weise eine soziale Wirksamkeit? Wenn man Narrationen, mit Goodman, als Formen der „Weltherstellung“(7) betrachtet oder als Dispositive, denen die Fähigkeit zukommt, alternative Wissensformen zu transportieren, wird deutlich, dass sie als potentielle „Gegenmacht“ auch eine ethische Dimension besitzen. Dieser Aspekt ist insbesondere von Experten der „Care“-Theorie untersucht worden, die stets die konstruktive Macht von Erzählungen hinsichtlich des Ziels der „Instandsetzung der Welt“(8) hervorheben. Von dieser Warte aus betrachtet stellt die Erzählung nicht nur ein politisches Machtinstrument zum Zwecke der Manipulation dar, sondern auch eine der effizientesten Formen von „Gegenmacht“, der ein nicht zu unterschätzender ethischer und sozialer Impetus eignet. Die „Macht von Erzählungen“, die den Schwerpunkt dieser Forschungsperspektive bildet, richtet das Augenmerk also einerseits auf die performativ-konstruktive und kollektivitätsstiftende Funktion von Erzählungen, andererseits aber auch auf ihr kritisches und autoreflexives Potential.

2) Erzählungen vonseiten der Macht: In welcher Weise und von wem werden Erzählungen bewusst als Instrument politischer Machtausübung eingesetzt? Welche narrativen Diskursformen werden dabei von Regierenden bevorzugt eingesetzt? Wie und zu welchem Zweck werden Erzählungen von politischen Akteuren erschaffen, verbreitet und legitimiert? Welche „Posen“(9) nehmen die Mächtigen ein, um die Botschaft ihrer Geschichten möglichst wirksam zu transportieren? Sowohl der „rhetorische“ Theorieansatz von J. Phelan und P. J. Rabinowitz (10) als auch der „meta-hermeneutische“ Ansatz von L. Korthals Altes (11) könnten für diese Fragestellung interessante, methodologische Perspektiven eröffnen.

3) Erzählungen und neue Methodologien: Wie haben die Geistes- und Sozialwissenschaften auf die „narrative Wende“ reagiert? Ist es ihnen gelungen, Analysemethoden zu entwickeln, die die Macht von Erzählungen in all ihrer Vielfalt und Komplexität zu erfassen vermögen? Angesichts jüngster Reflexionen auf die Möglichkeit, den Geisteswissenschaften ausgehend von Latour eine neue Ausrichtung und Legitimation zu verschaffen (12), lässt sich zudem fragen, ob Erzähltheorien das Potential haben, zu einer Erneuerung der Geisteswissenschaften beizutragen.

Wenn pragmatisch, differenziell und multidisziplinär ausgerichtete Ansätze uns auch am adäquatesten erscheinen, um dem breiten Spektrum von Erzählungen und deren Rezeptionseffekten Rechnung zu tragen, so sind Überlegungen „objektivistischer“ (oder „ontologischer“) Natur natürlich dennoch nicht ausgeschlossen. Forschungsansätze, die eine „konstruktivistische“ Perspektive mit einem „objektivistischen“ Anspruch zu verbinden suchen, sind daher willkommen (13). Die Vorschläge der Bewerber*innen können auf Französisch und Deutsch eingereicht werden. Wir bitten um die Zusendung eines entsprechenden Resümees mit einem Umfang von ca. 250 Wörtern sowie kurzer bio-bibliographischer Angaben bis zum 28.02.2019 an die Organisatoren:

Antonino Sorci: antosorci@hotmail.it
Eva S. Wagner: es.wagner@gmx.net

Anreise- und Übernachtungskosten werden erstattet. Wir bitten die Bewerber*innen, Ihre E-Mails mit dem Betreff „Wie wirkmächtig sind Erzählungen? : Vorschlag“ zu versehen.


(1) Citton, Yves: Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche. Paris: Editions Amsterdam 2010, S. 77 [Übersetzung d. Verf.].
(2) Vgl. Kreiswirth, Martin: „Tell Me a Story: The Narrativist Turn in the Human Sciences“. In: Constructive Criticism: the Human Sciences in the Age of Theory. Hg. v. M. Kreiswirth und T. Carmichael. Toronto: University of Toronto Press 1995, S. 61-87.
(3) Citton: op. cit., S. 67.
(4) Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München: Fink 1988, S. 118.
(5) Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 96.
(6) Man denke an Foucaults eingängige Formel des „conduire les conduites“. Vgl. Foucault, Michel: „Le sujet et le pouvoir“. In: Dits et écrits. Tome II. Paris: Gallimard, S. 1056.
(7) Goodman, Nelson: Manières de faire des mondes. Paris: Gallimard 2007.
(8) Gefen, Alexandre: Réparer le monde. La littérature française face au XXIe siècle_. Paris: Corti 2017.
(9) Meizoz versteht unter der „Autorenpose“ (_posture d’auteur
) den Versuch von Autoren, sich als einzigartig zu positionieren. Vgl. Meizoz, Jérôme: La littérature ,en personne‘. Scène médiatique et formes d’incarnation. Genf: Slatkine Érudition 2016.
(10) Vgl. Herman, David / Phelan, James / Rabinowitz, Peter J. et al.: Narrative Theory: Core Concepts and Critical Debates. Columbus: Ohio State University Press 2012.
(11) Vgl. Korthals Altes, Liesbeth: Ethos and Narrative Interpretation: The Negotiation of Values in Fiction. Lincoln: University of Nebraska Press 2014.
(12) Vgl. Felskis einführende Bemerkungen zur folgenden Sonderausgabe von New Literary History: Felski, Rita: Introduction. In: „Recomposing the Humanities — with Bruno Latour“. New Literary History 47, 2-3 (2016), 215-229.
(13) Zum Verhältnis der beiden Forschungsparadigmen zueinander, vgl. Passalacqua, Franco / Pianzola, Federico: „Epistemological Problems in Narrative Theory. Objectivist vs. Constructivist Paradigm”. In: Narrative Sequence in Contemporary Narratology. Hg. v. Raphaël Baroni und Françoise Revaz. Columbus: The Ohio State University Press 2016, 196-217.

Beitrag von: Eva Sabine Wagner

Redaktion: Unbekannte Person