Stadt: Augsburg

Frist: 2021-01-31

Beginn: 2021-10-04

Ende: 2021-10-07

URL: https://www.romanistik.de/aktuelles/4312

Was ist unzuverlässiges Erzählen? (Un)zuverlässigkeit – (Selbst)referentialität – (De)naturalisierungsstrategien

Innerhalb der Erzählforschung nimmt die Thematik des unzuverlässigen Erzählens eine zentrale Rolle ein. Doch wann genau wird eigentlich „unzuverlässig“ erzählt? Einem ersten intuitiven Verständnis des Phänomens folgend lässt sich festhalten, dass eine Erzählinstanz dann unzuverlässig ist, wenn es begründeten Anlass gibt, ihre Aussagen über die erzählte Welt oder die Glaubwürdigkeit ihrer Person an sich zu bezweifeln. Demzufolge hängt unser Verständnis von unzuverlässigem Erzählen jedoch maßgeblich davon ab, was überhaupt als „zuverlässiges“ Erzählen gilt; eine weitere Frage, die alles andere als evident ist.
In der Narratologie sind verschiedene Versuche unternommen worden, das Phänomen unzuverlässigen Erzählens zu systematisieren. Während der US-amerikanische Literaturwissenschaftler W. C. Booth „Unzuverlässigkeit“ in der Diskrepanz zwischen den fragwürdigen Aussagen des Erzählers und den Ansichten eines anzunehmenden impliziten Autors verortet (The Rhetoric of Fiction, 1961) und damit die Erzähltheorie nachhaltig geprägt hat, untersucht eine konstruktivistisch geprägte Forschungslinie „Unzuverlässigkeit“ als Lektüreeffekt, der aus der Interaktion zwischen Text und RezipientIn hervorgeht. Inkonsistenzen und Verfremdungseffekte im Text könnten während des Lektüreprozesses, so die theoretische Prämisse, durch die Projektion einer unzuverlässigen Erzählinstanz rationalisiert werden (Yacobi 1987, 2001; Nünning 1998, 1999). Demzufolge ist die Möglichkeit der Wahrnehmung von Unzuverlässigkeit selbst wiederum dem kulturellen und historischen Wandel unterworfen (Nünning 2005). Aktuellere Forschungsbeiträge wiederum tendieren dazu, den scharfen Gegensatz durch den Entwurf eines dreigliedrigen Analysemodells zu überwinden, in dem von einer Wechselbeziehung zwischen den Instanzen des Kommunikationsmodells (AutorIn-Text-LeserIn) ausgegangen wird und allen drei Bereichen Relevanz bei der Erzeugung von Unzuverlässigkeit zugesprochen wird (Phelan 2005; Phelan und Martin 1999; Olson 2003). Darüber hinaus haben innovative kognitionstheoretische Ansätze auf der Grundlage evolutionärer Einsichten in kommunikative Prozesse ein erneuertes Verständnis von „Unzuverlässigkeit“ als unkooperativem Erzählen entwickelt (Kukkonen 2013).
Wenn also davon auszugehen ist, dass erzählerische „Unzuverlässigkeit“ fiktionaler Texte nicht objektiv gegeben ist und daher weder allein als intendierter Kunstgriff realer AutorInnen zu bewerten ist, noch eine radikal subjektive und damit letztlich arbiträre Zuschreibung sein kann, so stellt sich auch die Frage ob und unter welchen Voraussetzungen besondere Textsignale überhaupt der Erzeugung von „Unzuverlässigkeit“ dienen.
In dieser Sektion soll dem Phänomen der Unzuverlässigkeit sowie der Frage nach den stillschweigenden Voraussetzungen nachgegangen werden, auf denen ihre Abgrenzung vom zuverlässigen Erzählen beruht, wie beispielsweise das Vertrauen in die Sprache als adäquates Medium der Repräsentation von Wirklichkeit und die Vorstellung des vermeintlich zuverlässigen Erzählers als fiktionales Abbild eines sich selbst transparenten, rationalen Subjekts. Damit verbunden stellen sich die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Unzuverlässigkeit und Zuverlässigkeit, Referentialität und Selbstreferentialität. Insbesondere wenn Fiktion nicht die außersprachliche Welt abbildet, sondern in Herausgeberfiktionen, Autorfiktionen, Buch-im-Buch-Fiktionen o.ä. spielerisch das Literatursystem selbst reflektiert und sich ihrer selbst bewusste Erzählinstanzen vom Schreiben und von sich selbst sprechen, begibt sie sich in einen Bereich der Illusionsbrüche und Verfremdungen, der Unschlüssigkeit und Unzuverlässigkeit zuträglich scheint.
Zur Diskussion stehen weitere aktuelle theoretische Fragen: Sind unzuverlässige Erzähler moderner und postmoderner Literatur vorbehalten? Welche literaturwissenschaftlichen Probleme bringt die ahistorische Projektion einer unzuverlässigen Erzählinstanz als Naturalisierungsstrategie mit sich? Besteht gleichermaßen die Gefahr, kulturelle Alterität mit Unzuverlässigkeit zu verwechseln? (Jedličková 2008). Welche besonderen narratologischen Erkenntnisse ermöglicht die Kognitionsforschung? Und wie lässt sich unzuverlässiges Erzählen von der fiktionale-Welten-Theorie aus denken?
Ausgehend von der aktuellen Erzählforschung zur Erzeugung von Unzuverlässigkeit in Fiktion wollen wir dazu einladen, über Einzelfallstudien und komparatistische Textanalysen zu einem tieferen Verständnis zu gelangen und auch die historische Perspektive eines sich wandelnden Phänomens auszuloten, das innerhalb literatur- und kulturwissenschaftlicher Überlegungen noch nicht abschließend diskutiert worden ist.

Bibliographische Auswahl
Booth, W. C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago, IL: University of Chicago Press, 1961.
Jedličková, A. „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“, in: D’Hoker, E./Martens, G. (Hrsg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel_, Berlin: De Gruyter, 2008.
Kukkonen, K.: „Flouting figures. Uncooperative narration in the Fiction of Eliza Haywood“, in:
Language and Literature_ 22 (3) 205-218, 2013.
Nünning, A.: „Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches“, in: Phelan, J./Rabinowitz, P. J. (Hrsg.): A Companion to Narrative Theory, Malden, MA, USA Oxford, UK: Blackwell Publishing, 2005.
Nünning, A.: Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1998.
Nünning, A.: „Unreliable, Compared to What? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration: Prolegomena and Hypotheses“, in: Grünzweig, W./Solbach, A. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext/Transcending Boundaries: Narratology in Context, Tübingen: Narr Verlag, 53-73, 1999.
Phelan,J.: Living To Tell About It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration, Ithaka, NY and London: Cornell University Press, 2005.
Phelan, J./ Martin, M. P.: „‘The Lessons of Weymouth‘: Homodiegesis, Unreliability, Ethics and The Remains of the Day“, in: Herman, D. (Hrsg.): Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus: Ohio State University Press, 88-109, 1999.
Olson, G.: „Reconsidering Unreliability: Fallible and Untrustworthy Narrators“, in: Narrative 11, 93-109, 2003.
Yacobi, T.: „Narrative and Normative Patterns: On Interpreting Fiction“, in: Journal of Literature Studies 3 (2), 18-41, 1987.
Yacobi, T.: „Package Deals in Fictional Narrative: The Case of the Narrator’s (Un)reliability“, in: Narrative 9, 223-9, 2001.

Sektionsleitung:
Sarah Burnautzki, Universität Heidelberg
Jobst Welge, Universität Leipzig

Abstracts für Sektionsbeiträge (max. 250 Wörter) werden zusammen mit einer kurzen Bio-Bibliographie (ebenfalls max. 250 Wörter) bis zum 31. Januar 2021 erbeten an: sarah.burnautzki@rose.uni-heidelberg.de; jobst.welge@uni-leipzig.de

Beitrag von: Sarah Burnautzki

Redaktion: Unbekannte Person