Nachruf auf Prof. em. Dr Annegret Bollée (1937 – 2021)

Annegret Bollée wurde am 4. März 1937 in Berlin geboren und wuchs in einem geisteswissenschaftlich geprägten Umfeld auf: ihr Vater war der renommierte Indologe Ludwig Alsdorf, ihr Ehemann Willem Bollée († 2020) war ebenfalls Professor für Indologie. Sie studierte an den Universitäten Hamburg, Aix – en – Provence und Bonn Romanistik und Anglistik und promovierte 1969 bei ihrem Lehrer Harri Meier mit einem Thema aus der diachronen Sprachwissenschaft (Die lateinischen Verbalabstrakta der u –Deklination und ihre Umbildungen im Romanischen). Während ihrer Zeit als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Köln (1969 – 1978) habilitierte sie sich 1976 mit einer zweibändigen Arbeit zu den Frankokreolsprachen im Indischen Ozean und öffnete damit der deutschen Romanistik völlig neue Türen. Mit Fug und Recht kann Annegret Bollée als die „doyenne“ der deutschen Kreolistik und deren führende Vertreterin bezeichnet werden, war sie doch die erste deutsche Wissenschaftlerin, die sich dieser, erst in den 1960er Jahren entstandenen Disziplin widmete. 1978 wurde sie auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft und Mediävistik an der Universität Bamberg berufen, den sie bis zu ihrer Emeritierung 2002 innehatte. 2014 wurde sie von der Universität Bamberg aufgrund ihrer Verdienste mit dem Ehrentitel Emerita of Excellence ausgezeichnet; noch im Juni 2021 verlieh ihr die Society for Pidgin and Creole Linguistics den Special Award für ihr kreolistisches Lebenswerk.

Annegret Bollée war eine Wissenschaftlerin, die wie kaum eine andere das Fach Romanistik nicht nur in Deutschland, sondern auch auf internationaler Ebene nachhaltig geprägt hat. Sie gehörte zu den Kreolisten der ersten Stunde und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kreolistik heute eine anerkannte Teildisziplin innerhalb der Linguistik ist. Annegret Bollées Hauptarbeitsgebiet waren die Frankokreolsprachen und hier vor allem die indo-ozeanischen Varietäten. Der erste Teil ihrer Habilitationsschrift Le créole français des Seychelles. Esquisse de grammaire – textes – vocabulaire (1977) war eine Pionierarbeit und ein Meilenstein auf dem Weg zur Beschreibung und Dokumentation dieses Idioms; noch heute ist dieses Buch das Standardwerk zum Seychellen-Kreol. Sowohl hier als auch im zweiten Teil der Habilitationsschrift Zur Entstehung der französischen Kreolendialekte im Indischen Ozean, Kreolisierung ohne Pidginisierung (1977) setzte sie sich mit der Genese der Kreolidiome auseinander und vertrat eine These, mit der sie die wissenschaftliche Diskussion maßgeblich beeinflusste: Kreolsprachen sind eigenständige Idiome mit einer besonderen Geschichte, deren Entstehung nicht zwangsläufig ein Pidginstadium voraussetzt.

Ihre seit 1973 andauernde wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kreolischen der Seychellen war von Anfang begleitet von einem exemplarischen persönlichen Engagement für die Aufwertung dieser, von vielen seinerzeit nur als Patois belächelten Sprache und deren Akzeptanz im seychellischen Bildungswesen. Es war Annegret Bollée, die gemeinsam mit der Seychelloise Danielle D’Offay (später de St. Jorre) 1978 eine offizielle Graphie für das Kreolische der Seychellen erarbeitete und so dazu beitrug, dass das Kreolische als Sprache der Bildung und des offiziellen Lebens neben Englisch und Französisch reüssieren konnte. Sie war es auch, die das erste auf Kreolisch verfasste Buch – eine Sammlung seychellischer Märchen – sowie das erste Wörterbuch dieser Sprache (Diksyonner kreol-franse von Danielle de St. Jorre und Guy Lionnet, 1982) veröffentlichte. Mit Weitsicht und Feingefühl hat sie die sprachpolitische Entwicklung auf den Seychellen, die ihr zur zweiten Heimat geworden waren, seit den 1980er Jahren begleitet; als Wissenschaftlerin war sie immer auch eine personne engagée, wobei es ihr stets wichtig war, die vor Ort lebenden Personen einzubinden. Nur so können, und dies war ihre feste Überzeugung, die von außen kommenden Linguisten und Linguistinnen ihr Wissen weitergeben, ohne dass dies als Einmischung empfunden wird. Neben der wissenschaftlichen Neugier und der Begeisterung für diese besonderen Sprachen war für Annegret Bollée immer auch die Verantwortung der Kreolisten und Kreolistinnen für die untersuchten Sprachgemeinschaften eine entscheidende Triebfeder. Da nach ihrem Wissenschaftsverständnis und ihrem Ethos als Sprachforscherin stets die Sprecher und Sprecherinnen selbst im Mittelpunkt stehen müssen, hat sie diese immer wieder aktiv bei der Einforderung eines Grundrechts, nämlich des Rechts auf den Gebrauch der eigenen Sprache in allen Bereichen des täglichen Lebens, unterstützt. Dass auf den Seychellen das Kreolische als dritte offizielle Sprache anerkannt wurde und bis heute als Unterrichtssprache im Primarbereich verwendet wird, ist letztlich auch ihr Verdienst. Einen guten Einblick in Annegret Bollées wissenschaftlichen Werdegang und ihre Pionierarbeit auf den Seychellen geben die Interviews, die Ursula Reutner mit Annegret Bollée geführt hat und die auch die menschliche Seite der Wissenschaftlerin Annegret Bollée, ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Herzlichkeit und ihren unvergleichlichen Humor sehr schön widerspiegeln (in: Annegret Bollée, Beiträge zur Kreolistik, hg. von Ursula Reutner, Hamburg, Buske, 2007, 189 – 215).

Neben dem Kreolischen der Seychellen hat sich Annegret Bollée schon früh auch den beiden anderen Frankokreolsprachen des Indischen Ozeans zugewandt, dem Kreolischen von Réunion und Mauritius, wobei sie insbesondere die Frage faszinierte, inwieweit das Kreolische von Réunion die Basis des Kreolischen von Mauritius und der Seychellen gelten kann. Zu diesem Themenkomplex hat sie eine Reihe exzellenter sprachhistorischer Untersuchungen vorgelegt, ihre Monographie Deux textes religieux de Bourbon du 18e siècle et l’histoire du créole réunionnais (2007) hat zu einer Neubewertung der bisherigen Einschätzungen bezüglich der Genese des Kreols von Réunion geführt. Exemplarisch zeigt dieses Buch, dass sich Annegret Bollées Analysen stets durch philologische Akribie, Belesenheit und fundiertes theoretisches Wissen auszeichnen. Ihre sprachtheoretisch ausgerichteten Schriften, die nicht nur in der Kreolistik, sondern auch in der allgemeinen Sprachwandel- und Sprachkontaktforschung auf große Resonanz stießen, sind vor allem der Genese der Kreolsprachen sowie den für diese Sprachen spezifischen Sprachwandelerscheinungen gewidmet. Sprachtheoretische Reflexionen waren für Annegret Bollée allerdings nie Selbstzweck; da nach ihrer Auffassung nur die Sprache selbst Einblicke in ihr Funktionieren und ihre Geschichte ermöglicht, war die Basis ihrer Überlegungen stets die solide empirische Datenanalyse. Was die Rolle der afrikanischen Substratsprachen anbelangt, so vertrat Annegret Bollée von jeher die Auffassung, dass die kreolischen Sprachen in erster Linie auf ihren europäischen Basissprachen in deren sprechsprachlichen Ausprägungen der Kolonialzeit basieren, was einen partiellen Bruch mit der jeweiligen Basissprache (das Wort lexifier lehnte sie immer ab) nicht ausschließt. Gewisse Einflüsse der am Sprachkontakt beteiligten afrikanischen Sprachen leugnete sie übrigens keineswegs, wie es u.a. aus ihrem wegweisenden Artikel zur Rolle der Konvergenz bei der Kreolisierung (1982) hervorgeht.

Das kreolistische Opus Magnum von Annegret Bollée ist ohne Zweifel das vier Bände umfassende Dictionnaire étymologique des créoles de l’Océan Indien (DECOI; 1993 – 2007) sowie das ebenfalls vierbändige Nachfolgewerk Dictionnaire étymologique des créoles d’Amérique (DECA; 2017 – 2018). Mit diesem monumentalen etymologischen Wörterbuch ist sie die Begründerin der kreolistischen etymologischen Forschung und steht damit in der Tradition der renommierten etymologischen Forschung in Deutschland, die u.a. mit den Namen Walther von Wartburg, Wilhelm Meyer-Lübke und Max Pfister verbunden ist. Dabei verstand Annegret Bollée die Arbeit an den Wörterbüchern stets als Teamwork; vor allem mit Jean-Paul Chauveau, Dominique Fattier, André Thibault, Patrice Brasseur, Robert Chaudenson (†), Hector Poullet und Philip Baker (†) pflegte sie über viele Jahre hinweg einen intensiven wissenschaftlichen Austausch. Dass sie die Arbeit zum DECA erst nach ihrer Emeritierung in Angriff nahm, belegt den unermüdlichen Forschergeist der leidenschaftlichen Sprachwissenschaftlerin Annegret Bollée, für die auch nach Fertigstellung des DECA 2018 noch nicht Schluss mit der Wissenschaft war: sie nahm aktiv an verschiedenen Kolloquien teil, pflegte intensive Email-Kontakte mit Kollegen im In– und Ausland und arbeitete bis zuletzt an einem Buchprojekt zur kreolischen Wortbildung, dessen Fertigstellung ihr nicht mehr vergönnt war.

Annegret Bollées wissenschaftliche Interessen gingen aber weit über die Kreolistik hinaus. Sie war eine Romanistin pure laine, die neben der Französistik – ein wichtiges Standbein sind hier die Varietäten des Französischen in Übersee (insbesondere in Québec) – auch in der Italianistik und der Hispanistik ausgewiesen war und zwar jeweils sowohl im Bereich der synchronen als auch der diachronen Sprachwissenschaft.

Den absolut gleichen Stellenwert wie die Forschung hatte für Annegret Bollée stets die Lehre. Ihr unermüdlicher Einsatz für die Studierenden, ihre inspirierenden, thematisch breitgestreuten und außerordentlich vielseitigen Veranstaltungen machten sie auch in diesem Bereich zu einer Ausnahmeerscheinung. Davon zeugen sowohl ihre stets mustergültig aufbereiteten Vorlesungsskripte sowie die Lehrwerke Sprachwissenschaftlicher Grundkurs für Studienanfänger Französisch (zusammen mit Wilhelm Pötters, 1975, 51983) und die Spanische Sprachgeschichte (zusammen mit Ingrid Neumann–Holzschuh, 2003, 42016). Die Lehre war für sie nie eine Last, sondern eine Quelle der Inspiration und eine Gelegenheit, junge Leute, die sie stets als wissenschaftliche Partner betrachtete, für ein Fach zu begeistern, das sie bis zuletzt faszinierte. Als Romanistin aus Passion, als originelle Denkerin und inspirierende Lehrerin war sie ihren Schülerinnen und Schülern im wissenschaftlichen und menschlichen Diskurs immer Vorbild gewesen. Nicht nur für ihre zahlreichen Bamberger Promovenden und ihre Habilitanden, sondern auch für Kreolisten und Romanisten aus dem In– und Ausland war sie eine der wichtigsten Adressen, wenn es um kreolistische Fragestellungen (aber nicht nur!) ging. Es war Annegret Bollées tiefste Überzeugung, dass Wissenschaft nur in der Gemeinschaft von Lehrenden und Forschenden, von Älteren und Jüngeren gedeiht. Aufgrund ihres uneingeschränkten wissenschaftlichen Engagements, ihrer ansteckenden Begeisterung für den besonderen Forschungsgegenstand, aber auch aufgrund ihrer menschlichen Wärme und grenzenlosen Hilfsbereitschaft war Annegret Bollée vielen Romanisten, vor allem aber den deutschsprachigen Kreolisten und Kreolistinnen (u.a. Sibylle Kriegel, Ralph Ludwig, Susanne Michaelis, Ingrid Neumann–Holzschuh, Stefan Pfänder, Ursula Reutner, Evelyn Wiesinger, Ulrike Scholz) immer eine überaus kompetente und verantwortungsvolle Begleiterin; für einige ist aus der Kollegin im Laufe der Jahre auch eine gute und enge Freundin geworden.

Annegret Bollée hinterlässt ein beeindruckendes wissenschaftliches Oeuvre: Ihr Publikationsverzeichnis umfasst das achtbändige etymologische Wörterbuch der Frankokreolsprachen, acht weitere Monographien, zahlreiche herausgegebene Werke, weit mehr als 60 Aufsätze und eine Vielzahl von Rezensionen. Von 1981 bis 2019 war Annegret Bollée die Herausgeberin der international renommierten Schriftenreihe Kreolische Bibliothek (Buske Verlag Hamburg).
Auch im Bereich der akademischen Selbstverwaltung war Annegret Bollée in ihrer aktiven Zeit überdurchschnittlich engagiert und prägte die Geschicke der Universität Bamberg in der 1980er und 1990er Jahren entscheidend mit. Sie war die Leiterin des von ihr konzipierten Sprachenzentrums, Frauenbeauftragte, Dekanin der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft (1988 – 1990), Vizepräsidentin der Universität Bamberg (1980 – 1983) und von 1989 – 1992 Mitglied des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1989 wurde sie als Mitglied in eine Strukturkommission zur Neugliederung der Universitäten in Niedersachsen berufen; von 1985 bis 1989 war sie die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Romanistenverbandes. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass Annegret Bollée auch eine derjenigen Professorinnen war, die nicht nur viel für die Frauenförderung getan hat, sondern die aufgrund ihres überdurchschnittlich großen Engagements in Forschung, Lehre und Verwaltung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Frauen in akademischen Ämtern allmählich eine Selbstverständlichkeit geworden sind.

Annegret Bollée hat in Forschung und Lehre gleichermaßen Akzente gesetzt und gehört ohne jeden Zweifel zu den großen romanistischen Sprachwissenschaftlerinnen unserer Zeit. Am 20. August 2021 ist die grande dame der deutschen Kreolistik völlig unerwartet verstorben; sie hinterlässt sowohl fachlich als auch menschlich eine große Lücke.

Ingrid Neumann–Holzschuh (Universität Regensburg), 29.08.2021