Stadt: Tübingen

Frist: 2021-12-15

Beginn: 2022-02-02

Ende: 2022-02-04

CFP Workshop „Idiorrhythmie als narratives Konzept in Literatur und Kultur“

02.-04.02.2022, Universität Tübingen – Organisation: Sara Bangert & Quintus Immisch
Deadline für Abstracts: 15.12.2021

Wie zusammen leben? Und wie davon erzählen? In seiner Vorlesung Comment vivre ensemble bündelt Roland Barthes 1976/77 diese Fragen im Begriff der Idiorrhythmie, mit dem er ein Miteinander asynchroner Lebensrhythmen entwirft: Als ein „utopischer Sozialismus der Distanz“ soll Idiorrhythmie individuelle Lebensgestaltung mit Gemeinschaftsbildung versöhnen. Dieses bislang in den Literaturwissenschaften erstaunlich wenig beachtete Konzept hält vielfältige Potentiale zur Untersuchung narrativer Phänomene und Figurationen bereit und wirft zugleich soziale und kulturtheoretische Fragen der Gemeinschaft, der Zugehörigkeit und des Zusammenlebens auf. Als ‚Phantasma‘ gelungenen Zusammenlebens in einer „Vergemeinschaftung der Distanzen“ (Barthes) erfasst Idiorrhythmie eine Kulturtechnik im Überschneidungsbereich von Individuum und Vergemeinschaftung und ermöglicht innovative Zugänge zu Phänomenen aus Literatur und Theater, politischer Theorie und Stadtplanung, Musik, Tanz und Kunst. Damit ist das Interesse an Idiorrhythmie entschieden transdisziplinär und lässt sich anschließen an die Rhythmusforschung, neuere Tendenzen der Literatur- und Kulturtheorie sowie an Fragen von Rhythmisierung, Synchronizität und Eigenzeitlichkeit, aber auch von Zugehörigkeit und Gemeinschaft in einer globalisierten Welt. Barthes greift dabei auf die Literatur zurück: er verortet sein Konzept „im Roman“ und untersucht an einem „literarischen Korpus“, unter anderem an Defoe, Gide, Thomas Mann und Zola, ein kulturelles Imaginäres, in dem Praktiken des Gleitens, Flanierens, aber auch der Regulierung auf Topiken von Zimmer, Kloster und Grandhotel treffen. Dabei kann Idiorrhythmie in ein „negatives Verhältnis zur Macht“ treten, denn das, „[w]as die Macht in erster Linie auferlegt, ist ein Rhythmus“; das Idiorrhythmische wird damit allgemein zur konzeptuellen Chiffre für das, „was sich bewegt, beweglich, fließend ist, keine organische Konsistenz besitzt“.
An dieser Flexibilität möchten wir ansetzen und dazu einladen, den Begriff ‚Idiorrhythmie‘ als weitreichendes analytisches Werkzeug in den Blick zu nehmen, das Zugänge zu Narrativen, Motiven, Figuren, aber auch Lebensmodellen, ‚Eigenrhythmen‘ und Formen der Vergemeinschaftung bietet: Kann Idiorrhythmie als narratives Konzept handlungsleitende und strukturierende Aspekte literarischer Texte erfassen? Wo materialisiert sich in der Literatur das ‚aus dem Takt‘ Geratene? Wie können stolpernde und umherschweifende Figuren, der ‚widerstehende‘ Vers, die eigenwillige Erzählung oder die unbeständige Form gelesen werden?

Ein erstes Panel, das sich theoretischen und konzeptionellen Dimensionen und Feldern von Idiorrhythmie widmet, könnte folgende Themen behandeln, selbstverständlich aber auch viele weitere Aspekte eingebracht werden:

  • trans- und interdisziplinäre Potentiale des Begriffs Idiorrhythmie
  • Idiorrhythmie und rhythmos als fluides Formprinzip
  • idiorrhythmische Räume, Zeiten und Eigenzeiten
  • idiorrhythmische Dimensionen von Vergemeinschaftung und belonging, Intersektionalität und globale Epistemologien
  • Rhythmen von Körper, Natur und Technik und idiorrhythmische Körper- und Kulturpraktiken

Ein zweites Panel konzentriert sich auf die Untersuchung von Narrativen, Szenen und Szenarien sowie Topoi und Praktiken der Idiorrhythmie in Lektüren und Fallstudien. Mögliche Fragestellungen könnten sich etwa auf folgende Themen und Aspekte beziehen, auch hier möchten wir aber zum Weiterdenken einladen:

  • Narrativierungen von ‚Eigenrhythmen‘,
  • Medialität, rhythmisierte Schreibweisen, Metrik und Erzählrhythmen)
  • soziale und ästhetische Normen und Regeln, idiorrhythmische Abweichungen und Freiräume
  • Rhythmen von Maschinen und Uhren, Diskurse von Synchronizität und Beschleunigung
  • Poetiken der Subversion gegenüber der Macht des Rhythmus (Verweigerung, Entzug, Traum und Rausch)
  • idiorrhythmische Figuren wie Künstler:innen, Flanierende, Dandys und Tramps, Müßiggänger:innen, Aussteiger:innen und Vagabund:innen
  • idiorrhythmische Metaphern des Gehens, Stolperns, Tanzens und des Ticks sowie Poetiken des Spaziergangs

Vorschläge für 30-minütige Beiträge mit systematisch-theoretischem Interesse am Begriff Idiorrhythmie sind ebenso willkommen wie solche zu konkreten Analysen idiorrhythmischer Konzeptionen und Modellierungen, wobei historische Perspektivierungen sich auf (Text-)Beispiele unterschiedlichster
Gattungen und Perioden beziehen können. Wir fordern ausdrücklich Nachwuchswissenschaftler:innen, insbesondere Doktorand:innen, aus den Fachbereichen der Literaturwissenschaften und Philologien, der Komparatistik und den Kulturwissenschaften dazu auf, sich zu bewerben. Beiträge aus Nachbardisziplinen, z.B. der Kunstgeschichte, den Musik-, Medien- und Sprachwissenschaften, aber auch der Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Ethnologie und Philosophie sind ebenso herzlich willkommen. Tagungssprachen sind Deutsch, Englisch und ggf. Französisch. Der Workshop ist als Präsenzveranstaltung am Deutschen Seminar der Universität Tübingen geplant. Reisekostenunterstützung kann gewährt werden. Abhängig von der Pandemiesituation findet der Workshop als Hybrid- bzw. Onlineveranstaltung statt. Die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge ggf. unter Einwerbung weiterer Beiträge ist vorgesehen. Wir bitten um die Einreichung kurzer Abstracts (bis 5.000 Zeichen) und einer kurzen biobibliografischen Notiz bis zum 01.12.2021 an sara.bangert@unituebingen.de und quintus.immisch@uni-tuebingen.de.

Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern.

Beitrag von: Quintus Immisch

Redaktion: Redaktion romanistik.de