Stadt: Wuppertal

Frist: 2024-03-31

CFP: Übersetzung und Edition – Arbeit am Werk (18. bis 20. September 2024)

Ausgehend von der Vorstellung, dass ein Zustand der Abgeschlossenheit für das Konstrukt ‚Werk‘ nicht zu erreichen sei, prägte Walter Benjamin in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920) sowie in der ‚Aufgabe des Übersetzers‘ (1923) die Vorstellung von Übersetzer*innen und Kritiker*innen als „Teilschöpfern des Kunstwerks“ (Eilenberger 2018: 50). Übersetzung und (Text-)Kritik sichern das Fortleben des Werkes, denn in Übersetzungen „erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung“ (Benjamin 1969: 58) und die „Bewußtseinssteigerung in der Kritik ist prinzipiell unendlich“ (Benjamin 1973: 62). Dadurch wächst sie in verschiedenen Reflexionsstufen über das Original hinaus und führt zu einer „Nachreife auch der festgelegten Worte“ (Benjamin 1969: 60).

Auch die Editionswissenschaft muss sich mit der Frage beschäftigen, inwiefern durch die Editor*innentätigkeit ein Werk verändert und fortgeschrieben wird. Wenn Übersetzungen Teil einer Edition sind, wird die zentrale Frage nach ihrer Kommentierung und der Beschreibung ihrer Entstehung noch potenziert, weil Editions- und Übersetzungswissenschaft in diesem Fall gleichermaßen in den Blick genommen werden müssen. Hinzu kommt, dass beide Fachwissenschaften traditionsgemäß mit einer Verehrung des nahezu „heiligen“ Originals (Hermans 1985: 7) zu kämpfen haben. Während die Editionswissenschaft sich vom Autor*innenwillen und ihrer alleinigen Verfügung über den Text lossagte, rückte die Übersetzungswissenschaft mit den Descriptive Translation Studies in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts von präskriptiven Beurteilungen ab und nahm die Funktion von Übersetzungen im Aufnahmekontext in den Blick. Mit dem disziplinübergreifenden cultural turn wurde der Text mehr und mehr zu einem sozialen Faktum, wodurch die Eigenschaft von Editor*innen und Übersetzer*innen als kulturelle Mittler*innen immer deutlicher zutage trat, in ihrer Besonderheit aber selten reflektiert wurde.

Wie (historische) Übersetzungen zu edieren sind, beschäftigt die Editionswissenschaft schon seit längerem (vgl. Laufhütte 2002), viele Fragen sind allerdings seit der verstärkten Beschäftigung mit digitaler Edition, künstlicher Intelligenz, Wirkungs- und Kanonisierungsprozessen, Mehrsprachigkeit u. a. neu zu stellen. Anhand von Beispielen aus der Editions- und Übersetzungspraxis sowie Analysen von Editionen und Übersetzungen möchte die Tagung interessierte Wissenschaftler*innen der philologisch arbeitenden Fächer und der Medientechnologie sowie Übersetzer*innen dazu einladen, sich an der Bergischen Universität Wuppertal in etwa 30-minütigen Vorträgen über mögliche Schnittmengen zwischen Editions- und Übersetzungswissenschaft in Bezug auf den Text und seine Erscheinungsformen, aber auch im Hinblick auf die Verortung von Übersetzungen und Editionen im Gesamtzusammenhang des Werkes auszutauschen. Die nachfolgenden Fragen können als Impulse für mögliche Themen dienen:

  • Inwieweit tragen Übersetzungen und ihre Editionen zur Kanonisierung von Texten bei? Welche Rolle kommt dabei den Übersetzer*innen/Editor*innen zu?
  • Inwiefern sind Ausgaben von Übersetzungen kulturell geprägt?
  • Welche Rolle spielen bei der Arbeit an Übersetzungen und an Editionen (mit Übersetzungen) die Zielgruppen?
  • Sind Übersetzungen als eigenständige Werke oder als Fassungen bzw. Textstufen eines (ausgangssprachlichen) Werkes zu betrachten?
  • Wie entwickelt sich ein Text bspw. durch Auslassungen, Hinzufügungen, Umstellungen? Ist die Abbildung einer Textgenese von Übersetzungen wünschenswert und wie ist sie umzusetzen? Wie können Übersetzungsentscheidungen, die in der „little black box“ (Toury 2012: 214) ablaufen, nachvollzogen werden?
  • Wie sind Übersetzungen aus zweiter Hand textgenetisch und textkritisch einzuordnen?
  • Wie geht man mit einem der Übersetzung zugrundeliegenden doppelten Ausgangstext um, und wie kann dieser in einer Edition abgebildet werden (auch mithilfe digitaler Tools)?
  • Ist eine Übersetzung fremdsprachlicher Textanteile für die Edition zwingend notwendig?
  • Welchen Einfluss hat künstliche Intelligenz auf die bestehende Übersetzungs- und Editionspraxis? Welche Entwicklungen dieses Einflusses sind zukünftig zu erwarten?

Abstracts von nicht mehr als 500 Wörtern senden Sie bitte bis zum 31.3.2024 an stralla@uni-wuppertal.de

Literatur:

Benjamin, Walter.

  • ‚Die Aufgabe des Übersetzers‘. In: Benjamin, Walter. Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1969, S. 56-69.
  • Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973.
    Eilenberger, Wolfram. Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929. Stuttgart: Klett-Cotta, 2018.
    Hermans, Theo (Hg.). The Manipulation of Literature: Studies in Literary Translation. London: Croom Helm, 1985.
    Laufhütte, Hartmut. ‘Sollen historische Übersetzungen ediert werden – und wenn ja: wie?‘ In: Plachta/Woesler (Hg.).: Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers. Beihefte zu editio Bd. 18. Tübingen: Niemeyer, 2002, S. 81-92.
    Munday, Jeremy. Introducing Translation Studies: theories and applications. London: Routledge, 2012.
    Snell-Hornby, Mary. The Turns of Translation Studies: new paradigms or shifting viewpoints? Amsterdam: John Benjamins Publishing, 2006.
    Toury, Gideon.
  • ‘Some Recent (and More Recent) Myths in Translation Studies: An Essay on the Present and Future of the Discipline’. In: Muñoz-Calvo/Buesa-Gómez (Hg.). Translation and cultural identity: selected essays on translation and cross-cultural communication. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars, 2010, S. 155-171.
  • Descriptive Translation Studies – and beyond. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 2012.

Beitrag von: Melanie Stralla

Redaktion: Julius Goldmann