Stadt: Innsbruck, Österreich

Frist: 2015-08-20

Beginn: 2016-04-14

Ende: 2016-04-16

Nach Hans-Thies Lehmann kann postdramatisches Theater als eine Konzeptualisierung von Kunst nicht als Repräsentation, sondern als Erfahrung des Realen (Zeit, Raum, Körper) verstanden werden, und zwar mit einer provokanten köperzentrierten Präsenz der Künstler_innen und einer Unmittelbarkeit der gemeinsamen Erfahrung von Akteur_innen und Publikum (Lehmann: Postdramatisches Theater, 1999, S. 241ff). Das Performative bzw. die Körperzentriertheit, die Auflösung der Trennung zwischen Handelnden und Zuschauenden sowie das Ineinanderwirken von Theaterkunst und anderen realen Lebensbereichen sind u.a. zentrale Merkmale des postdramatischen Theaters. Diese postdramatischen Merkmale bestehen etwa in Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs „Aktion 18, tötet Politik“ in Form einer Fusionierung von rituellen, performativen, religiösen, politischen sowie realen und ästhetischen Situationen, um nur diese beiden Beispiele zu erwähnen.
Außerdem weisen die Körperzentriertheit und die performativen Verflechtungen von Ritual-(Theater)Kunst-Realität in postdramatischen Formen stark auf ältere bzw. außereuropäische performative/rituelle Theaterformen hin, wie noch bei Nitsch und Schlingensief zu beobachten ist. In diesem Sinne macht das Postdramatische Theater seinerseits verstärkt die Gemeinsamkeiten kultureller Praktiken in unterschiedlichen Kulturräumen sichtbar. Man könnte vom postdramatischen Theater als einem transkulturellen Theater sprechen, das die körperzentrierte Konstante in performativen und rituellen Auf-/Ausführungen unterschiedlicher Kulturräume darstellt. Insofern ist postdramatisches Theater auch als transkulturelles Theater zu verstehen, das die kulturellen Grenzen überschreitet. In diesem Zusammenhang weisen Natalie Bloch und Dieter Heimböckel, Herausgeber von Theater International, eine Vortragsreihe, auf „Prozesse der Internationalisierung im Theater der Gegenwart“ als Resultat der „Globalisierung des Kapitals“ und der „weltweiten Migrationsbewegungen“ hin (Bloch / Heimböckel, 2014, S. 7), die das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen erleichtern bzw. verstärken, einschließlich der damit einhergehenden „Fremdheitserfahrungen und Missverständnisse“ (Bloch / Heimböckel, 2014, S. 8). Dies bringt aber zugleich eine Bereicherung mit sich, indem es zu neuen kulturellen sowie ästhetischen Aushandlungsprozessen in jenem kulturellen Kontext führt, in dem diese Theaterkulturen zusammentreffen und sich performativ artikulieren. In diesem Zusammenhang schlägt auch Lehmann in Pia Janke / Teresa Kovacs (Hg.): “Postdramatik”. Reflexion und Revision eine „stärker transkulturell orientierte Betrachtungsweise“ vor. Er betont, dass „das dramatische Theater Europas eine Sonderentwicklung“ sei, weshalb ihm „die Relativierung des spezifisch europäischen Theatermodells durch transkulturell orientierte Forschung überaus wichtig“ erscheine (Janke / Kovacs, 2015, S. 45).

Für die Tagung interessieren vor allem performativ-leibzentrierte und rituelle Hervorbringungen von tragischer Erfahrung und Präsentationen, die im postdramatischen bzw. transkulturellen Kontext Unterhaltung und rituelle Transformationsfunktion sowie Kunst und Realität verschmelzen. Folgende Fragen sollen im Zentrum des Interesses stehen:

1. Werk-/Ereignisanalyse
- Kann die körperzentrierte Konstante in performativen und rituellen Auf-/Ausführungen unterschiedlicher Kulturräume im Kontext des postdramatischen Theaters als transkulturelles Theater bestehen und sich (re-)präsentieren lassen, ohne als Grenzüberschreitung erfahren bzw. wahrgenommen zu werden?
- Wie koexistiert das kulturelle Eigene und Fremde in diesem Theaterkontext und welche kulturellen Begegnungs- oder Verflechtungskonflikte lassen sich beobachten?
- Welche kulturellen und ästhetischen Kompromissbildungen lassen sich bei den Begegnungen/Verflechtungen im transkulturellen Theater in postdramatischen Formen voraussetzen?

2. Wissenschaftliche Theorien
Diese Fragen bergen zugleich methodologische Herausforderungen:
- Wie würden die wissenschaftlichen Begegnungen/Verflechtungen auf diesem Terrain geschehen – interdisziplinär und/oder integrativ, wenn es zu einer Zusammenarbeit kommt?
- Treten eventuell auch wissenschaftliche Begegnungs-/Verflechtungskonflikte auf, da es sich zugleich um kulturell unterschiedliche wissenschaftliche Objekte und Subjekte sowie Machtverhältnisse handelt?
- Wie steht die Literaturwissenschaft dieser neuen Herausforderung gegenüber, wenn die tragische Erfahrung die literarisch-textzentrierte Stoffdimension verlassen hat oder vom literarischen Werk auf performativ-körperzentrierte Erfahrung umgestellt wird?

3. Theater und Gesellschaft
- Wie verändern transkulturelle Formen des postdramatischen Theaters das Theaterverständnis und die gesellschaftliche Rolle der Theaterkunst im Allgemeinen?
- Wie positionieren sich die einzelnen mittelbar und unmittelbar Teilhabenden inklusive die Behörden angesichts dieser postdramatischen bzw. transkulturellen Theaterformen, die nicht nur die konventionell-institutionellen Rahmen der Theaterkunst überschreiten, sondern auch ästhetisch eine gewisse real-erfahrbare Tragik hervorbringen bzw. präsentieren?
- Welche Bedeutung kommt dem postdramatischen Theater als transkulturellem Theater zu, um Wahrnehmungen zu ermöglichen, die angesichts des leibzentrierten Theaters andere bzw. verkehrte Lesarten und Perzeptionsmöglichkeiten voraussetzen?

Dieser Call for Papers wendet sich an alle, die sich wissenschaftlich oder künstlerisch/ästhetisch mit einigen Aspekten dieser Fragenkomplexe beschäftigen. Deutsch ist die Tagungssprache für alle Teilnehmer_innen. Beitragsvorschläge mit Titel in Form eines Abstracts (nicht mehr 250 Wörter) sowie knappe Angaben zur akademischen und/oder künstlerischen Einbettung der Person (nicht mehr als 100 Wörter) werden bis zum 20. August 2015 per Email an Koku Nonoa (nonoato2@gmail.com) und Michaela Senn (michaela.senn@yahoo.de) erbeten. Ab der dritten Woche nach dem Abgabetermin wird rückgemeldet, ob die jeweiligen Beitragsvorschläge angenommen wurden oder nicht.

Organisation der Tagung_:
Doktoranden
innen-Kolleg „Figuration Gegenkultur“ /
Forschungsschwerpunkt Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte/
Universität Innsbruck

tON/Not – Verein für interdisziplinäre Theaterformen /
Innsbruck

Beitrag von: Birgit Mertz-Baumgartner

Redaktion: Reto Zöllner