Stadt: Saarbrücken

Beginn: 2016-09-28

Ende: 2016-10-01

Enzyklopädisches Schreiben – Wissenssysteme, Grenzüberschreitungen und Erkenntnisgrenzen (17.-21. Jahrhundert)

Als moderne Medien der Wissenssicherung und Wissensordnung sind Enzyklopädien von jeher sowohl für die Neukartographierung als auch für die Vermittlung von Weltwissen zuständig gewesen. Mit ihren enzyklopädischen Projekten unterstützten Verleger und Autoren die Standes- und Landesgrenzen überschreitende Popularisierung von Wissen und Forschung und zielten zugleich auf ein die Alltagssprache vorziehendes Lesepublikum, das sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert über die Gelehrten der République des lettres hinaus in der exponentiell zunehmenden Menge der gebildeten Zeitungsleserschaft fand. Dabei waren die Entstehungs-zusammenhänge enzyklopädischer Unternehmen vielfach transnational, die „route des encyclopédies“ (Proust 2005) führte über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Enzyklopädien können damit als eines der entscheidenden Leitmedien für die Herausbildung eines grenzüberschreitenden europäischen Wissens- und Kommunikationsraumes gelten.

Die französische Kultur hat seit dem späten 17. Jahrhundert Modelle des Enzyklopädismus und des enzyklopädischen Schreibens entwickelt, die europaweit und transkulturell von kaum zu überschätzendem Einfluss gewesen sind. Der Dictionnaire Historique et Critique (1697) von Pierre Bayle, die Encyclopédie von Diderot und D’Alembert (1751-80) und der Grand Dictionnaire universel du XIXe siècle von Pierre Larousse (1866-76) repräsentieren sowohl „typische“, zeitgenössische Formen der Wissenssystematisierung und Wissensvermittlung wie sie auch für Formen der Infragestellung und Überschreitung tradierter Wissensformen stehen – also eine kritische Dimension aufweisen. Dabei lassen sich in der jüngeren Geschichte der Gattung im Wesentlichen drei Phasen konstatieren, die durch epistemologische Umbrüche gekennzeichnet sind:

1. Das frühe 18. Jahrhundert bedeutete für die westliche Episteme einen zentralen Einschnitt: Modernisierungsschübe in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zeitigten eine Fülle von neuen Wörtern und Terminologien; Entdeckungsfahrten und Reisen jenseits der eigenen Grenzen produzierten eine schier unendliche Menge an neuem Wissen, das in die bisherigen „Altbestände“ integriert zu werden verlangte bzw. jene zu hinterfragen und zu revolutionieren vermochte. Zu dem stetigen quantitativen Zuwachs an Kenntnissen trat eine neue Komplexität der Wissensformation hinzu. Den nun nahezu unbegrenzt erscheinenden Beständen drohte die Unübersichtlichkeit; „die neue Quantität des Wissens verlangte nach einer neuen Qualität seiner Anordnung“ (Charlier 2010: 20). Dieser Notwendigkeit trugen vor allem Diderot und D’Alembert mit der Encyclopédie Rechnung. Letztere begründete in Frankreich die Idee eines universalen alphabetisch-systematischen Nachschlagewerks, das dem Publikum das gesammelte Mensch-heitswissen in aufbereiteter, übersichtlicher Form zur Verfügung stellte.

2. Der „epistemologische Bruch“ (Foucault) an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wiederum, die Neuorganisation von Wissensbereichen bzw. Einzelwissenschaften, sollten nicht nur auf die Enzyklopädie sui generis Einfluss nehmen, sondern auch in der Belletristik der Zeit ihren Niederschlag finden. In seinem Roman Bouvard et Pécuchet (posthum 1881), der das gesamte kulturelle Wissen des 19. Jahrhunderts sowohl vorstellt als auch problematisiert, geht Flaubert der Frage nach, inwiefern Wissen und Wissenschaft in der Moderne überhaupt noch möglich sind. Sein offenbar als zweiter Teil geplanter Dictionnaire des idées reçues schließlich liest sich sowohl als Gesellschaftssatire wie als Parodie auf das Genre der Enzyklopädie.

3. Mit den Neuerungen auf dem Gebiet der Informationstechnologie – insbesondere der Entwicklung von Hypertext-System und Netbrowsern – waren in den 1990er Jahren die Voraussetzungen geschaffen für den Durchbruch des World Wide Web, das schnell zu einem Marktplatz für Informationen jeglicher Art wurde. Die sich im Netz entwickelnde „Wissenskultur der Amateure und Laien“ (Pscheida 2010:11) fand auf dem Gebiet des enzyklopädischen Schreibens ihre Entsprechung in der 2001 gegründeten Wikipedia. Nur zwei Monate nach der englischsprachigen Site ins Leben gerufen, zählt die französischsprachige wikipedia.fr mittlerweile zu den fünf wichtigsten Wikipedias überhaupt. Als frei zugängliche, webbasierte Form von Enzyklopädie unterliegt Wikipedia dabei zentralen Transformationen, die mit den Stichpunkten der Demokratisierung von Wissenschöpfung und –partizipation, der Hyper-textualisierung und der intermedialen Verknüpfung und Grenzüberschreitung umrissen werden können.

Die Sektion verfolgt die grundlegende Zielsetzung, die Bedeutung enzyklopädischer Literatur (vgl. Wiethölter/Berndt/Kammer 2005) in der Kultur Frankreichs und der frankophonen Länder in exemplarischen Studien herauszuarbeiten und hierbei zugleich die Problematik des enzyklopädischen Schreibens ins Zentrum zu rücken. Diese umgreift nicht nur die rhetorischen und stilistischen Register enzyklopädischer Werke sowie ihre Paratexte, sondern auch

1. ihre intermedialen sowie intertextuellen Dimensionen und

2. die Verbindungen zwischen enzyklopädischen Werken im engeren Sinn und literarischen Texten. Dabei stellt sich die Frage nach den Spezifika enzyklopädischen Schreibens (im Vergleich zum literarischen Schreiben) ebenso wie die nach den Schnittpunkten von Belletristik und Enzyklopädistik und der kritischen Reflexion und spielerischen Parodie enzyklopädischer Unternehmungen. Zu denken ist hier beispielsweise an die bereits genannten Texte von Flaubert, an das Werk Georges Perecs und verschiedene Schriften von Roland Barthes (u.a. seine alphabetisch geordnete autobiographische Schrift Roland Barthes par R.B.). In den frankophonen Literaturen und Kulturen außerhalb Europas lassen sich neben der Adaption französischer Modelle des Enzyklopädismus – etwa in der Ausgabe des Larousse „pour le Canada“ – vielfältige Formen der kritischen Distanznahme zum Enzyklopädismus französischer und europäischer Prägung ausmachen, die als Verkörperung westlicher Rationalität gesehen werden.

3. Mit der Einbeziehung webbasierter Formen von Enzyklopädien (wie Wikipedia.fr) verfolgt die Sektion schließlich das Ziel, die Transformation der Wissenssystematisierung und die hiermit verbundenen interaktiven Lese-, Lern- und Diskussionsformen (Blogs) kritisch zu beleuchten und hiermit verbundene Spezifika des französischen und der frankophonen Kulturräume in den Blick zu nehmen.

In Bezug auf das Rahmenthema des Frankoromanistentages formuliert die Sektion folgende Fragen: Welche Formen der Wissenssystematisierung hat enzyklopädisches Schreiben seit der Frühen Neuzeit geschaffen? Durch welche Dynamik und durch welche Logik der Grenzüberschreitungen – d.h. der Kritik an tradiertem Wissen – ist das enzyklopädische Genre gekennzeichnet? Und inwieweit kommt der fiktionalen Literatur (vor allem auch außereuropäischer frankophoner Autoren/innen), der Philosophie und der Essayistik die Funktion zu, die Erkenntnisgrenzen von Enzyklopädien, die auch die des modernen okzidentalen Rationalismus sind, in Frage zu stellen, zu überschreiten und aufzubrechen?

Vortragsvorschläge bitte an:
susanne.greilich@ur.de
luesebrink@mx.uni-saarland.de


PD Dr. Susanne Greilich (Universität Regensburg)
Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink (Universität des Saarlandes)

Beitrag von: Susanne Greilich

Redaktion: Christof Schöch