Stadt: Saarbrücken

Frist: 2016-07-04

Beginn: 2016-11-11

Ende: 2016-11-11

Wie lässt sich Gesellschaft adäquat darstellen und analysieren? Diese Frage beschäftigte schon die wissenschaftlichen und literarischen Milieus des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt in Frankreich avancierte das Problem der Darstellbarkeit der modernen Industriegesellschaft zum programmatischen Leitmotiv von Autoren wie Balzac und Zola, die mit ihren Romanzyklen emblematische Formen einer soziologisch inspirierten, umfassenden Gesellschaftsanalyse geprägt haben. Faktoren wie Industrialisierung, massenmediale Neuerungen und die zunehmende Etablierung der Sozialwissenschaften führten jedoch nicht nur zur Entstehung des realistischen Gesellschafts- oder Sittenromans, sondern brachten eine Reihe von bisher in der Literaturwissenschaft kaum beachteten innovativen Projekten der Gesellschaftsbeobachtung hervor. Diese Werke der sogenannten panoramatischen Literatur (W. Benjamin) wie Les Français peints par eux-mêmes (1840-42) oder Paris, ou le livre des cent-et-un (1831-34), an denen bedeutende Schriftsteller wie Balzac, aber auch Journalisten, Künstler sowie Wissenschaftler und Karikaturisten mitwirkten, verstanden sich als moralische Enzyklopädien ihrer Zeit: Im Zusammenspiel verschiedener Wissenskulturen (Literatur, Soziologie, Bildende Kunst etc.), Medien (Text, Bild), Schreibweisen und Gattungen (Essay, Reportage etc.) entstand ein umfangreiches Porträt der französischen Gesellschaft. In ihrer arbeitsteiligen Erzählweise entsprechen diese „belletristischen Kollektivarbeiten“ (I. Kranz) prototypisch der ökonomisch und sozial ausdifferenzierten Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Als zutiefst hybride narrative Formen, die im Überschneidungsfeld von Literatur und Sozialwissenschaft agieren und wissenschaftlichen Anspruch mit Unterhaltungsfunktionen verbinden, stehen sie symptomatisch für den Verlust eines klar erkennbaren Erzählzusammenhangs und das Aufkommen multiperspektiver Verfahren.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten, so scheint es, erleben diese Projekte und Medien einer „anderen“ bzw. alternativen Sozialgeschichtsschreibung ein ungeahntes Revival: So werden etwa die panoramatischen Werke des 19. Jahrhunderts, in denen sich die französische Gesellschaft selbst beobachtete, vielfach neu aufgelegt bzw. adaptiert. Die Wiederbelebungsversuche dieser französischen Tradition zeugen von einer „fièvre d’autoanalyse“ (Pierre Rosanvallon), die die französische Gesellschaft angesichts zunehmender sozialer, identitärer und politischer Zerfallserscheinungen seit den 1980er Jahren regelmäßig in Atem hält. Wie nicht zuletzt Bourdieus Sozialstudie La misère du monde (1993) gezeigt hat, wird etwa der Literatur auf der Suche nach neuen, zeitgemäßen Formen der Gesellschaftsdarstellung und -analyse wieder verstärkt ein sozialepistemologisches und kohäsionsstiftendes Potential zugeschrieben. Gerade in Frankreich, das im 19. Jahrhundert in Sachen kollektiver Erinnerungskultur und nationaler Identitätspolitik europaweit Vorbild war und das im ausgehenden 20. Jahrhundert besonders unter dem Verblassen nationaler Bindungskraft zu kämpfen hatte, sind seit den 1980er Jahren immer wieder innovative, groß angelegte literarische Versuche zur Analyse des kollektiven Selbstbildes unternommen worden, die z.T. über die Grenzen Europas hinaus Nachahmer fanden (s. Pierre Nora, Les lieux de mémoire, Paris 1997). Im Jahr 2013 rief der bekannte Historiker und Demokratieforscher Pierre Rosanvallon das Literaturprojekt Raconter la vie ins Leben, das „gewöhnlichen“ Franzosen die Möglichkeit bietet, aus ihrem Alltagsleben zu berichten und vom Leben anderer zu erfahren. Was hier letztendlich mosaiksteinartig in unzähligen récits und petits livres entsteht, ist ein gleichermaßen literarisch wie soziologisch inspiriertes, polyphones soziales Fresko, das – durchaus in Anlehnung an die panoramatischen Literaturprojekte des 19. Jahrhunderts oder literarisch-soziologische Unternehmungen wie das amerikanische Federal Writers’ Project der 1930er Jahre – den Anspruch erhebt, die soziale Realität Frankreichs abzubilden und damit den „roman vrai de la société d’aujourd’hui“ (raconterlavie.fr) zu verkörpern.

Das Bestreben danach, dem Einzelnen ein möglichst anschauliches Bild der sozialen Realität und zugleich eine Identifikationsmöglichkeit mit einer kollektiven (Zeit-)Geschichte zu bieten, lässt sich auch hinter den momentan international so zahlreich produzierten TV-Serien erkennen. Ein Beispiel für Produktionen, die das Selbstanalysefieber nicht nur bedienen, sondern zugleich auch als solches darstellen, ist allen voran In Treatment (2008-2010), eine US-amerikanische Serie über den Arbeitsalltag eines Psychotherapeuten. Der Zuschauer, der sich in dessen Therapiesitzungen hineinschleichen darf, wird dort Zeuge eines breiten Panoramas aktueller Leiden der Gesellschaft. Diese bieten sich ihm ähnlich mosaiksteinartig dar wie in den Teilpublikationen von Raconter la vie, wobei sich der Serienzuschauer gleich mit den einzelnen Figuren therapieren lassen kann.

Ziel des geplanten Workshops ist eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme und Analyse aktueller Projekte und Erscheinungsformen des Gesellschaftsporträts. Dabei sollen zunächst sowohl die medialen, narrativen und epistemologischen Strategien gegenwärtiger Projekte der gesellschaftlichen Selbstanalyse als auch ihre historischen Bezüge sichtbar gemacht werden. Obgleich es im weitesten Sinne um kollektive literarische bzw. literaturbasierte Projekte gehen soll, werden – wie dargestellt – durchaus komparatistische Bezüge zu anderen Medien und Formaten der gesellschaftlichen Selbstreflexion (z.B. Film, TV-Serien oder auch Radiosendungen) angestrebt.
Ein Fokus liegt auf der Frage nach den spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der kollektiven Gesellschaftstableaus: Wie und unter welchen Umständen lässt sich im Zeitalter der sozialen Netzwerke und angesichts der Beliebtheit kollektiver, partizipatorischer Formen der sozialen Wissensbildung (s. thepeoplesscience.org, Wikipedia) der „wahre Roman der Gesellschaft“ schreiben? Welchen Einfluss haben Aspekte wie etwa Serialität oder Multimedialität auf die Produktion eines Diskurses über soziale Realität und in welchem Maße und von wem werden diese Produktionen rezipiert? Wer bestimmt eigentlich, was der roman vrai der Gesellschaft ist und welche Steuerungs- und Ausschlussmechanismen auf dessen Produktion einwirken? Denn während sich auf Kanälen wie youtube dieser roman (fast) ganz von alleine schreibt, zielen die skizzierten Literatur- und Filmprojekte allein schon durch die Bündelung von Erzählungen und Beobachtungen aus dem sozialen Alltag auf Kohärenzstiftung ab, wodurch sie letztlich neben der sozialanalytischen eine in hohem Maße sinnstiftende Komponente besitzen. Es wird deshalb auch nach der gesellschaftlichen Wirkungsmacht dieser Projekte zu fragen sein: Welche symbolischen und welche konkreten Funktionen bekleiden sie im Prozess der gesellschaftlichen Selbstdeutung und -gestaltung? Welche Rolle nehmen sie in den diversen Feldern des öffentlichen Diskurses (Politik, Wissenschaft etc.) ein?

Auf diese Weise möchten wir eine gesellschaftliche Debatte von hoher Aktualität untersuchen, wobei wir folgende Themenfelder und Fragen vorschlagen:

  • narrative Inszenierungen von Gesellschaft/sozialer Wirklichkeit/des sozialen Alltags
  • kollektive, serielle und hybride Formen der Gesellschaftsdarstellung in Literatur, TV oder Radio und ihr sozialepistemologisches Potential
  • der Rückgriff auf die Literatur zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts
  • Verknüpfungsstrategien von Literatur, Film und Sozialwissenschaften
  • Wissenschaft, Literatur und kollektive Identität
  • Rolle der Literatur und anderer Medien bei der Bewältigung aktueller politischer Repräsentationskrisen
  • Literatur und demokratischer Diskurs / Literatur und Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs

Für den Workshop, der am 11.11.2016 an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken) stattfinden soll, freuen wir uns über ca. 20minütige Beiträge aus den Bereichen Literatur-, Kultur-, Medien-, Geschichts- und Sozialwissenschaften.

Themenvorschläge (in Form eines kompakten Abstracts und einer kurzen biobibliographischen Angabe, max. 1 Seite) können bis zum 4. Juli 2016 an folgende Adressen geschickt werden:

Robert Lukenda (lukenda@uni-mainz.de)
Lisa Zeller (lizeller@uni-mainz.de)

Als Keynote-Speaker haben wir Pauline Peretz (Universität Nantes, École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris) gewonnen, die das kollektive Literaturprojekt Raconter la vie vorstellen wird, das sie als Chefredakteurin zusammen mit Pierre Rosanvallon betreut.

Appel à contributions : « Panoramas, mosaïques et séries – formes collectives ou sérielles du portrait de la société » (journée d’étude)

Comment peut-on représenter et analyser de manière adéquate la société ? Au XIXe siècle, cette question a déjà occupé les milieux scientifiques et littéraires pour aboutir, avec Balzac et Zola, à de grands cycles romanesques inspirés par la sociologie. Or, les innovations médiales ainsi que la mise en place des sciences sociales ne conduisirent pas seulement au développement du roman de société ou de mœurs, mais aussi à des projets innovateurs d’analyse sociale. Ces œuvres « panoramiques » (W. Benjamin) comme Les Français peints par eux-mêmes (1840-42) ou Paris, ou le livre des cent-et-un (1831-34), moins analysées par la critique littéraire que les grandes fresques romanesques et auxquels participèrent des écrivains comme Balzac, mais aussi des journalistes et des scientifiques, se présentaient comme des encyclopédies morales de leur temps : ainsi, un portrait étendu de la société française naquît dans l’interaction de différentes cultures du savoir (littérature, sociologie, arts plastiques, etc.), de différents médias (texte, images), écritures et genres (essai, reportage, etc.). L’émergence de procédés valorisant une multitude de perspectives correspond à la société basée sur la répartition du travail, en même temps que ces travaux collectifs, en tant que formes profondément hybrides situées dans l’intersection de la littérature et des sciences sociales, représentent, de manière symptomatique, la perte d’un ‘grand récit’.

Ces dernières années et décennies, il semble que ces projets d’une écriture alternative de l’histoire connaissent une renaissance insoupçonnée. Ainsi, les œuvres panoramiques du XIXe siècle, dans lesquelles la société s’est analysée elle-même, sont rééditées et adaptées de multiples manières. Ces tentatives de réanimation d’une tradition française témoignent d’une « fièvre d’autoanalyse » (P. Rosanvallon), fièvre qui, face aux signes de ‘décadence’ sociale, identitaire et politique, tient en mouvement la société française depuis les années 80. Comme l’a montré notamment La misère du monde (1993) de Bourdieu, on attribue de nouveau à la littérature un potentiel épistémologique et créateur de cohésion sociale. C’est justement en France, modèle de la culture de la mémoire et de la politique de l’identité au XIXe siècle et qui, à la fin du XXe siècle, a dû se battre avec l’affaiblissement de la force cohésive de la nation, qu’on a entrepris, depuis les années 80, de grandes tentatives d’analyse de l’image de soi collective, tentatives qui imitées parfois au-delà des frontières européennes (cf. P. Nora, Les lieux de mémoire). En 2013, l’historien Pierre Rosanvallon lança le projet littéraire Raconter la vie , un projet qui offre aux Français ‘moyens’ la possibilité de raconter leur vie quotidienne et de prendre connaissance de celle de leurs contemporains. A partir de nombreux récits et petits livres, une fresque sociale polyphone et inspirée tout aussi de la littérature comme des sciences sociales naît ici comme une mosaïque. Ce projet, en se référant aux projets littéraires panoramiques du XIXe siècle et comparable au Federal Writers’ Project états-unien des années 1930, prétend représenter le « roman vrai de la société d’aujourd’hui » (raconterlavie.fr).

Le désir d’offrir à l’individu une image parlante de la réalité sociale et une possibilité de s’identifier à une histoire collective se perçoit également derrière les nombreuses séries télévisées produites actuellement à l’échelle internationale. Un exemple de productions qui ne servent pas seulement la fièvre d’autoanalyse mais qui en plus la représentent, est avant tout la série états-unienne In Treatment (2008-2010), une série sur la vie professionnelle d’un psychothérapeute. Le spectateur, qui peut se glisser dans les séances thérapeutiques de ce dernier, devient témoin d’un panorama étendu de souffrances propres à la société actuelle. Celles-ci se présentent comme les publications partielles de Raconter la vie dans une série au cours de laquelle le spectateur peut faire sa propre thérapie avec et à travers les personnages.

L’objectif de la journée d’étude est d’inventorier et d’analyser des projets et des phénomènes actuels du portrait de la société. Nous proposons de rendre compte des stratégies médiales, narratives et épistémologiques de projets actuels ainsi que de leurs références historiques. Les comparaisons entre les projets littéraires et d’autres médias et formats d’une autoréflexion sociale (film, séries télévisées, radio) sont les bienvenues. Nous proposons de réfléchir aux conditions spécifiques de production et de réception des tableaux collectifs de la société : comment et dans quelles conditions peut-on écrire le « roman vrai de la société » dans l’ère des réseaux sociaux ? Comment la sérialité ou la multimédialité influencent-elles la production d’un discours sur la réalité sociale ? Qui décide de ce qu’est le ‘roman vrai’ de la société et quelles mécanismes de régulation et d’exclusion influent sur sa production ? Alors que, sur des canaux comme youtube, ce roman s’écrit quasiment lui-même, les projets littéraires et filmiques tendent à la cohérence, ne serait-ce que par le rassemblement de récits et d’observations. Ils contribuent dès lors, à côté de leur composante analytique, à produire du sens. Il faudra pour cela demander quelle est la force effective de ces projets : quelles fonctions symboliques et concrètes ont-ils dans l’autoanalyse et l’organisation sociales ? Quel rôle occupent-ils dans les divers champs du discours public (politique, science etc.) ?

Nous aimerions analyser un débat social actuel en proposant les pistes suivantes :

  • mises en scènes narratives de la société/de la vie quotidienne
  • formes collectives, hybrides et sérielles de la représentation de la société dans la littérature, la télévision ou la radio
  • le recours à la littérature pour renforcer la cohésion sociale
  • science, littérature et identité collective
  • le rôle de la littérature et d’autres médias face aux crises de la représentation politique
  • littérature et discours démocratique / participation sociale

Pauline Peretz (univ. de Nantes, EHESS, Paris), rédactrice en chef du projet Raconter la vie, dont elle est responsable avec Pierre Rosanvallon, présentera ce projet littéraire collectif.

La journée d’étude aura lieu le 11 novembre 2016 à l’université de la Sarre, Sarrebruck.
S’il vous plaît, envoyez vos propositions (résumé d’une contribution de 20 min. et courte référence biobibliographique, 1 page max.) par mail, avant le 4 juillet 2016, aux adresses suivantes :

Robert Lukenda (lukenda@uni-mainz.de)
Lisa Zeller (lizeller@uni-mainz.de)

Beitrag von: Lisa Zeller

Redaktion: Christof Schöch