Stadt: Leipzig

Beginn: 2018-11-05

Ende: 2018-11-07

URL: http://home.uni-leipzig.de/~cici/fachtagung-venus-sephora-und-der-kranke-bacchus/

Für Literat*innen, Filmemacher*innen, Modeschöpfer*innen und Photograph*innen, für bildende Künstler*innen der Hoch- und Popkultur des 19. bis 21. Jahrhunderts konstituiert die italienische Malerei der Renaissance einen zentralen Wahrnehmungsfilter, der die eigenen Ein-Bildungen steuert. Nicht zufällig bemerkt Pier Paolo Pasolini, er könne keine kinematographische Einstellung machen, ohne an Malerei zu denken. Dementsprechend sind die Protagonisten seiner Filme zu Reinkarnationen pikturaler Vorlagen geworden und verweisen als lust- und todessüchtige Nomaden auf den Kranken Bacchus eines Caravaggio oder den Sterbenden Christus eines Mantegna.

Die Beherrschung des begehrlichen Sehens durch Vor-Bilder, die mediale Verfasstheit der Wahrnehmung des Liebenden ist auch für einen anderen Diskursbegründer des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung: Marcel Proust. Wenn eine gewisse Albertine gleich einem Zombie in Venedig aus einem Gemälde von Carpaccio springt, wenn ein blonder Jüngling wie eine mutierte Venusfigur durch einen Frühstückssaal spaziert und eine vulgäre Kokotte zur biblischen Sephora eines Botticelli wird, dann sind wir in einem ganz von Malerei beherrschten Roman von Proust, der mit einem imaginären Museum verglichen werden darf.

Gehen wir in der romanischen Literatur- und Kulturgeschichte noch weiter zurück, so sehen wir uns mit einem Phänomen konfrontiert, das erstmals 1817 den Italienreisenden Stendhal befiel. Angesichts der überbordenden Fülle florentinischer Kunstschätze fühlte er sich, wie er in seinem Reisetagebuch Rome, Naples et Florence notiert, in einen ekstatischen Zustand tiefer Erschöpfung zwischen Verzückung und Schockstarre versetzt. Jene Reizüberflutung, ausgelöst durch all die flirrenden Sinneseindrücke in Betrachtung der Fresken Giottos und in Vergegenwärtigung der Genialität Michelangelos wirkte auf ihn buchstäblich atemberaubend. Heute sind derartige Nebenwirkungen übermäßigen Kunstkonsums, die Kulturtouristen aus aller Welt in der Renaissance-Hochburg Florenz immer wieder heimsuchen, im medizinischen Fachjargon unter dem Namen „Stendhal-Syndrom“ als pathologisch klassifiziert.

In den visuellen Kulturen des 21. Jahrhunderts ist das Warburgʹsche Bildrepertoire der italienischen Renaissance, sind seine Figuren und Mythen zur ruinösen Epistemologie verkommen. Trotz oder paradoxerweise gerade deswegen hat es nichts von seiner Faszinationskraft verloren, auch wenn unfreiwillige Selbstparodien der Prominenz, die vergeblich versucht, an die großen Gesten der Schaumgeborenen anzuknüpfen – so zuletzt Heidi Klum als Venus in der Muschel – scheitern müssen. Raffiniert sind indes die zahlreichen Botticelli-Überschreibungen einer avancierten Popkultur, die neue ambige Venusfiguren hervorbringt und damit – wie auch schon Proust – normierte Geschlechtermodelle willentlich unterläuft.

Das internationale und transdisziplinäre Kolloquium zielt auf eine Analyse der Kontinuitäten und Diskontinuitäten der literarischen und medialen Präsenz der italienischen Renaissancemalerei in der europäischen Kultur des 19. bis 21. Jahrhunderts.

PROGRAMM

Montag, 5. November 2018

Vortragssaal, Bibliotheca Albertina

13:00 Uhr
Begrüßung
Moderation: Franziska Andraschik

Grußworte:
Prof. Dr. Oliver von Knebel Doeberitz, Studiendekan der Philologischen Fakultät
Prof. Dr. Luigi Reitani, Direktor des Italienischen Kulturinstituts Berlin

Einleitung: Uta Felten/Tanja Schwan

14:00 Uhr
Eröffnungsvortrag:
Frank Zöllner (Universität Leipzig)
Aby Warburgs Nymphe. Realität und Phantasie

18:00 Uhr
Eröffnungskonzert und Empfang im Konzertfoyer der Oper Leipzig
Scherzi musicali – Musik von Monteverdi, Händel, Vivaldi usw.

Dienstag, 6. November 2018

Vortragssaal, Bibliotheca Albertina

10:00 Uhr
Stephanie Wodianka (Universität Rostock)
Perspektiven auf Realität: Renaissancemalerei in der phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Mérimée, Balzac)

Jobst Welge (Universität Leipzig)
Malerei der Renaissance und des Barock bei C.E. Gadda

Mittagspause

14:00 Uhr
Uta Felten (Universität Leipzig)
L’eros, la morte e il sacro: Caravaggio nel cinema del novecento

Margherita Siegmund (Universität Leipzig)
Immagini delle passioni in Mamma Roma di Pier Paolo Pasolini

Kaffeepause

16:30 Uhr
Franziska Andraschik (Universität Leipzig)
„Die Emanzipation des Sehens“ – Wahrnehmungsästhetische Überlegungen zur Malerei von Caravaggio bei Uwe Timm und Arnold Stadler

Christoph Behrens (Universität Rostock)
„Il m’a fallu comprendre le Corps Allemand“ Vom transmedialen zum transkorporalen Erzählen: Caravaggios Sette opere di Misericordia (1606/07) in Mathieu Riboulets Les OEuvres de miséricorde (2012)

Mittwoch, 7. November 2018

Vortragssaal, Bibliotheca Albertina

9:00 Uhr
Anne-Marie Lachmund (Universität Leipzig)
Von Affirmation über Emanzipation bis hin zu Subversion: Der Venus-Mythos in der Populärkultur

Benjamin Meisnitzer (Universität Leipzig)
Motive der italienischen Malerei der Renaissance in der portugiesischen Lyrik des 19.-20. Jahrhunderts

Tanja Schwan (Universität Leipzig)
T.V. – Tiziano Vecellio in La télévision

Abschlussdiskussion

Beitrag von: Tanja Schwan

Redaktion: Christof Schöch