Rekonstruktion, Imagination, Gedächtnis: Ästhetik und Poetik der Ruinen

Giulia Lombardi (München), Simona Oberto (Freiburg), Paul Strohmaier (Trier)

Als materielle Überreste sesshafter Kulturen zählen Ruinen seit Unzeiten zum Bestand historischer Gegebenheiten. Als Motiv erscheinen sie bereits in der griechischen Epigrammatik sowie punktuell im Mittelalter, doch ist es die Frühe Neuzeit, die ihnen erstmals Bedeutsamkeit auf einer (wirkungs-) ästhetischen, topischen und geschichtsphilosophischen Ebene verleiht. Wie anhand der Werke von Petrarca, Bembo und Castiglione zu beobachten ist, bilden zunächst die Monumente des antiken Roms ­die Folie eines umfassenden kulturellen Projekts der renovatio einer als Vorbild gedeuteten Epoche. Die materiellen Reste entfalteten dabei, wie Papst Pius II. 1462 festhält, zudem eine ethische Wirkung, seien sie doch Zeugnis der Tugenden und Fähigkeiten der alten Römer und damit Ansporn zu deren Nachahmung. Ferner können Ruinen den Ausgangspunkt eines translatio studii-Geschehens bilden, das die vormals dem antiken Rom zuerkannte Vormachtstellung zur Disposition stellt (Du Bellay). Ab dem 17. Jh. wird das Rom-Modell jedoch zu einem Niedergangsparadigma und begründet ausgehend von Frankreich einen neuartigen Diskurs der décadence, in dem die Ruine zum eigenständigen Gegenstand der bildenden Künste aufsteigt (Hubert Robert, Piranesi). Von dort dringt sie in die ästhetischen Debatten der Aufklärung ein, in denen das „Ruinöse“ schließlich zu einem ästhetischen Effekt wird, der sich auch ohne historisches Substrat erzielen lässt. Die Karriere der „falschen“ Ruine in der europäischen Gartenkunst beginnt. Mit der romantischen poétique des ruines gewinnt die Ruine neue Vitalität als Schnittpunkt von nachrevolutionärer Re-Christianisierung, historischer Selbstbefragung und dichterischem Ingenium. Hinzukommt die gothic fiction, die im Schauer, der von den verfallenen Gemäuern ausgeht, eine neue Ästhetik des Unheimlichen begründet. Auch das 20. Jh. übt sich in einer Lektüre von Ruinen. Sie können einerseits literarisch fruchtbar gemacht werden, z.B. durch den Erneuerungsansatz der Avantgarden. Andererseits können sie im Sinne von Kulturverfall und -kritik gedeutet werden, zu deren Ausdruck etwa das Fragment wird. Schließlich fungieren Ruinen immer auch als Indizes „vergangener Zukunft“ (Koselleck), als Überbleibsel obsolet gewordener Utopien, so etwa die Ruinen des Industriezeitalters oder die urbanen Großbauten der klassischen Moderne. Während das Posthistoire zuweilen als Zeit der „Ruinenlosigkeit“ gedeutet wurde, zeigt sich zu Beginn des 21. Jh. wiederum eine Neufunktionalisierung der Ruine als Instrument kultureller Kriegsführung (Palmyra).
Die diachron changierende Faszination der Ruinen lässt sich damit kaum überzeitlich formulieren, etwa als die „uninteressierte Trauer über den Untergang glänzenden und gebildeten Menschenlebens“ (Hegel). Vielmehr erzeugt sie eine Vielfalt von Bestimmungsversuchen, Übertragungen und poetologischen Inanspruchnahmen, deren Fülle und Verzweigtheit es zu erschließen gilt. Folgende Leitfragen wären dabei denkbar:

1. Welche Autorisierungsfunktion gewinnen Ruinen in der Dichtung von Humanismus bis hin zur Moderne, auch jenseits des Atlantiks wie etwa in Pablo Nerudas Las alturas de Machu Picchu?

2. Wie unterscheiden sich der Umgang mit den Ruinen Roms und ihre Bewertung in der Romania?

3. Welche Ruinen-Modelle zeigen sich jenseits des römischen und wie verhalten sie sich zu diesem?

4. Welche (Un-)Lesbarkeiten historischer Zeit kristallisieren sich je im Medium der Ruine? Dienen sie der Vergewisserung oder der Kritik historischer Zeitläufte? Wann misslingt die erhoffte Restitution und Erneuerung? Wird auch die Ruine von der „Beschleunigung“ neuzeitlicher Geschichte (Koselleck) erfasst?

5. Weshalb sind Ruinen immer schon Inzitamente literarischer Imagination? Welche Rolle spielt dabei die in ihnen angelegten Unterscheidung von „Realkörper“ und „Idealkörper“ (Böhme 1989) und damit des Versprechens einer ‘heilenden‘ Rekonstruktion qua Schrift?

6. Was ist die Rolle von Ruinen innerhalb des literarisch konfigurierten kulturellen Gedächtnisses? Welche Umbesetzungen erfahren dieselben Artefakte im Laufe von dessen Umschreibungen?

7. Wie diffundiert die Metaphorik der Ruine in andere diskursive und kognitive Zusammenhänge innerhalb einer Kultur? Welche Metaphorologien lassen sich nachzeichnen?

8. Welche „ruinösen“ Schreibformen generiert die Ruine als Analogon im Medium Sprache selbst?

Abstracts können bis 31.12.2018 eingereicht werden (Kontakt: Paul Strohmaier, strohmai@uni-trier.de) und dürfen inkl. Leerzeichen und bibliographischen Angaben bis zu 3.000 Zeichen umfassen. Vortragssprachen sind alle romanischen Sprachen und das Deutsche.

Beitrag von: Paul Strohmaier

Redaktion: Robert Hesselbach