Stadt: München

Frist: 2020-02-29

Beginn: 2020-07-09

Ende: 2020-07-11

Rapunzel lässt ihr Haar in Form eines geflochtenen Zopfes 20 Ellen tief hinunter, damit ihr Prinz in den hermetisch verschlossenen Turm aufsteigen kann. Donald Trumps Haartolle – ein in sich verwobenes Gewebe ohne sichtbaren Anfang und Ende – wird als Metapher für sein Verhältnis zu Wahrheit und Politik gehandelt. Durch seine übermenschliche Stärke besiegt Simson im Alten Testament die Israel unterdrückenden Philister: Der Ursprung seiner Unbesiegbarkeit liegt in der Kraft seiner Haare – solange diese nicht geschnitten werden. „Don’t touch my hair!“: Der Afro wird zum Symbol des Widerstandes gegen die strukturelle Gewalt rassistischer Unterdrückung. Die moderne Haarindustrie verknüpft hypersexualisierte und neoimperiale Vorstellungen mit transnationalen Ausbeutungsstrukturen, die sich über chinesische Haarfabriken, hinduistische Tempel und Youtube-Tutorials bis zur Unternehmenspolitik der Multinationale Great Lengths International erstrecken, deren Vermarktung ‚natürlicher‘ Haarextensions auf der Extraktion eines ‚ethnischen Mehrwerts‘ (Hage 1998) aus den depigmentierten Haarresten nichtwestlicher Frauen basiert (Berry 2008).

Haare sind einerseits Gegenstand mannigfaltiger sozialer Kontroversen, während sie andererseits zugleich Objekt vielfacher Formen der Ausbeutung sind: Sie bergen ein widerständiges Moment, stehen entgegen, sind aber in dieser Potentialität auch stets bedroht – Haare sind prekäre Materialitäten. In ihrer Gegenständlichkeit, die sich herkömmlichen Dichotomien zwischen Passivität und Aktivität nicht fügt, bilden sie einen Knotenpunkt verschiedener Diskurse, die sich in Literatur, Kunst und Film anreichern und in der Forschung diskutiert werden. Während in den African-American Studies die politische Funktionalisierung dem weißen Normalstandard entgegenstehender Kopfhaarfrisuren und damit verbunden die Aufwertung schwarzer Körperästhetik der Black-Consciousness-Bewegung im Zentrum steht (Hallpike 1972, Caldwell 1991, Kelley 1997, Banks 2000, Byrd/Tharps 2001), fokussiert die Gender-Forschung das Kopf- und Körperhaar in Literatur und Kunst als Attribut von Weiblichkeit/Männlichkeit hinsichtlich der Divergenz von Konformität und Individualität (Fisher 2010, Roebling 1999/2000, Rycroft 2020, Sagner u. a. 2011, Möhrmann/Urbani 2012, Wernli 2018). In der literaturwissenschaftlichen Forschung finden sich neben Beiträgen zu Fiktionalität und Realität (Haas 2008) vor allem Analysen der Codierungen von Haarfarben, die sich mit stereotypen, anthropologisch-kulturgeschichtlich generierten Zuschreibungen v. a. blonder und roter Haare beschäftigen (Junkerjürgen 2009/2017, Biehahn 1964, Goller 2009, Krause 2015). Daneben rückt außerdem der institutionalisierte Akt des Haareschneidens in Form der literarischen Figur des Friseurs in den Fokus (Williams 2016, Herzog 1996).

Haar bezeichnet jedoch nicht nur einen Knotenpunkt unterschiedlicher Wissensformationen oder fungiert als reine Projektionsfläche für verschiedene symbolische Praktiken, sondern ist gleichzeitig Vermittler und Reflexionsmedium ästhetischer Formgebung. Nicht erst mit Ludwig Tiecks „Zopfnovelle“ (Füllmann 2008) Die Gesellschaft auf dem Lande zählt das Haar zum zentralen Bestand formalästhetischer Metaphorik: Geknotet, geschnitten und gelockt, geflochten, rasiert oder auch verdeckt figurieren Kopf- und Körperhaar diskursiv überladene Einsatzstellen poetologischer Entwürfe, narrativer Modelle und gattungsästhetischer Experimente. Dass sich am Schopf eine Übergänglichkeit von Körper zu Plot und narrativer Synthese realisiert, ist eine der Grundannahmen dieser Tagung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei nicht nur säuberlich frisierten Formationen, sondern ebenso dem Haar als poetologischem Störfaktor. Wie in Racines Phèdre Haare zum Index auftrittschoreographischer Krisen werden (vgl. Vogel 2018), entzündet sich in Ibsens Drama Hedda Gablers dramatischer Zerfall am wiederholt geäußerten Versuch, die Haare ihrer Konkurrentin Thea Elvstedt zu verbrennen.

Das Haar nämlich ist Ort narrativer Schnittgewalt, lyrischen Exzesses und dramatischer (Ver-/Zer-)Knotung und öffnet dabei den Blick auf das Groteske und Unheimliche des Haares, das eng mit dessen spezifischer Materialität verknüpft ist: ob fein, dick, lockig oder geschoren, Kopf- und Körperhaar bedrohen durch ihren Status als tote Substanz, die über den Leib hinausreicht, die Integrität von Körper und Text. Im toten Material konzentriert sich eine aufgestaute Lebendigkeit, die dem Haar eine Widerständigkeit einschreibt, es als Wiedergänger auftreten, vom Körper abfallen oder zum unheimlichen Aktanten werden lässt. Diese gespenstische Gegenständlichkeit und überschüssige Vitalität bilden schließlich auch die Schnittfläche, an der sich ökonomische, medienhistorische oder psychoanalytische Auseinandersetzungen mit dem Haar anlagern: Sei es die Gleichsetzung von Haar und Warenform, die sich als lebendige Arbeit in totem Material abzeichnet (vgl. Berry 2008), oder eine Überblendung von Haar und Vagina – die materielle Qualität des Haares verknüpft unterschiedliche diskursive Felder und legt deren Schnittpunkte offen.

Die Tagung stellt die Frage nach Poetiken, Praktiken und Funktionen von Haar in Literatur und anderen Medien. Von besonderem Interesse ist dabei der (poetologische) Einsatz der überschüssigen Materialität des Haares sowie das Haar als Operator in Widerständigkeits- und Resistenzdiskursen. Für die Tagung sind Beiträge zu folgenden Themenbereichen, aber nicht ausschließlich zu diesen, möglich:

- Gattungspoetische und formalästhetische Aspekte des Haares
- Medialität des Haares
- Interdisziplinäre/Komparatistische Perspektiven: Inszenierungen von Haar-Semantiken in Film, Kunst und Musik
- Kulturelle Praktiken des Haares: Schneiden, Waschen, Glätten, Rasieren, Wachsen etc.
- Praktiker des Haares: Perückenmacher, Friseure und Barbiere etc.
- Haarige (Aus-)Handlungsräume: Friseursalons, Badezimmer, Waxing-Studios etc.
- Verhältnis Kopf- und Körperhaar: Frisur und Vagina etc.
- Kommerzialisierung des Haares: Das Haar als Ware, Haare in globalen Warenströmen/-ketten und postkolonialen Kartographien/Geographien
- Haarspaltereien: Widerborstige Materialität von Haaren
- Gegenständlichkeit: Verhältnis von Material und Widerständigkeit, Rhetoriken des Widerstandes, das Haar als Widerstand
- Diskursiv-materielle Haarpraktiken und Formen der Subjektivierung

Eingeladen, sich um einen Vortrag im Umfang von 20 min Sprechzeit zu bewerben, sind ebenso Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen wie auch Kunst- und Medienwissenschaftler*innen, Anthropolog*innen und Sozialwissenschaftler*innen, die Fragen der Poetik und Materialität des Haares untersuchen. Beiträge von Nachwuchswissenschaftler*innen sind besonders willkommen. Eine Veröffentlichung der Beiträge wird angestrebt.

Die Konferenz wird von der Klasse für Literatur der Graduiertenschule Sprache & Literatur organisiert und findet vom 9.–11. Juli an der LMU München statt; mit Keynote-Vorträgen von Prof. Seán Williams (The University of Sheffield) und Prof. Emma Tarlo (Goldsmiths University of London).

Vorschläge für einen Vortrag auf Deutsch oder Englisch im Umfang von ca. 300 Wörtern verbunden mit einer biographischen Notiz senden Sie bitte bis zum 29. Februar 2020 an: hair.conference@germanistik.uni-muenchen.de

Beitrag von: Fabiola Valeri

Redaktion: Robert Hesselbach