Stadt: Innsbruck

Frist: 2020-10-30

Beginn: 2021-06-10

Ende: 2021-06-12

URL: https://www.uibk.ac.at/geschlechterforschung/fz-medical-humanities/nom/

2014 erscheint der mehrfach preisgekrönte Roman Réparer les vivants von Maylis de Kerangal. Akribisch genau schildert die Autorin in diesem Text die Etappen einer Herztransplantation – vom Autounfall des 20-jährigen Simon Limbres sowie der Feststellung seines Hirntodes, über das Ringen um das Einverständnis der Eltern in die Multiorganentnahme bei ihrem Sohn bis hin zur lebensrettenden Operation der Organempfängerin Claire Méjéan. Es handelt sich um einen Text, der neben anderen ‚medizinischen Sensationen‘ (wie dem Tast- oder dem Sehsinn) vor allem die auditive Wahrnehmung adressiert, denken wir beispielsweise an das bei der Multiorganentnahme „aus dem Körper laufende Blut, [das] in einer Wanne aufgefangen [wird], und da das Plastikmaterial den Schall verstärkt wie ein Resonanzkörper, ist dieses Geräusch noch beeindruckender als der Anblick“ (Kerangal 2016, 220-221). Oder führen wir uns vor Augen, dass Simons Vater, als er der Freundin seines Sohnes dessen Tod mitteilen möchte, „der Sprache nicht mehr mächtig [war], er brachte keinen Satz heraus, nur Geröchel, abgehackte Silben, Gestotter, erstickte Laute“ (Kerangal 2016, 218).
Dieses literarische Beispiel ruft die eminente Bedeutung akustischer Phänomene (in) der Medizin in Erinnerung – eine Bedeutung, die bereits am Diagnoseinstrument des zur Auskultation eingesetzten Stethoskops ablesbar wird, das als eines der Embleme schulmedizinischer ärztlicher (Heil-)Kunst schlechthin gelten kann. Allerdings geht die Relevanz von Geräuschen in der Medizin, die in den letzten Jahren zu Forschungen betreffend die soundscapes von Krankenhäusern Anlass gab , noch über einen solchen Befund hinaus. Hierzu genügt es, sich die Metapher einer „laute[n] Sprachlosigkeit der Medizin“ (Kirschning 2001; cf. auch Meyer-Drawe 2008, 209) zu vergegenwärtigen, die in der Arzt-Patient*innenkommunikation (beispielsweise im Fall einer ohne ‚Taktgefühl’ mitgeteilten Diagnose) Relevanz gewinnen kann, oder an Giovanni Maios Kritik an einer „schrille[n] Medizin, die […] den Patienten verstummen lässt“ (Maio zit. nach Wallner 2015, 3) zu denken. Auch die dem Chirurgen René Leriche zugeschriebene Definition der Gesundheit als „Leben im Schweigen der Organe“ (Canguilhem 1978, 46) sowie Hartmut Rosas soziologisches Konzept der Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Rosa 2016) lässt die Relevanz akustischer Phänomene in medizinischen Kontexten und ganz besonders auch im Bereich der Medical Humanities anklingen. Denn – was das Hören ganz besonders auszeichnet ist ja, dass wir unsere Ohren nicht verschließen, wohl aber die Augen abwenden können.
Diese einführenden Bemerkungen erklären die Fokussierung der Tagung auf Laute und Geräusche (in) einer ‚vielstimmigen‘ Heilkunst, die es an der Schnittstelle von Medizin und Geisteswissenschaften multiperspektivisch zu beleuchten gilt. Neben philosophischen, erziehungswissenschaftlichen, literatur- und kulturwissenschaftlichen, linguistischen, translationswissenschaftlichen sowie geschichtswissenschaftlichen Beiträgen sind Vorträge aus unterschiedlichsten medizinischen Spezialisierungen und Fachbereichen (u.a. auch Care, Medizintechnik etc.) willkommen, wobei im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein Überblick über mögliche Themen und Fragestellungen gegeben werden soll.

Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektivierungen akustischer Phänomene (in) der Medizin betreffen bislang vorwiegend die Abwesenheit von ‚Lärm‘ und setzen sich mit der schwierigen Darstellbarkeit von (psychischem) Leid und Schmerz (Morris 1991; Breton 2012) sowie mit Behinderungen wie beispielsweise Taubblindheit (Fürholzer 2018, 217-226) auseinander. Seltener stehen in literaturwissenschaftlichen Analysen akustische Phänomene (in) der Medizin selbst – sei es in motivisch-thematischer Hinsicht, sei es im Hinblick auf ihre ästhetische Ausgestaltung – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wie beispielsweise die ‚Epochenkrankheit‘ Tinnitus (Steiner 2006, 213-232). Gerade der (vielstimmige) literarische Text, der „by its very nature commands listening“ (Leighton 2018), erscheint aber als ein geeignetes Medium, um medizinische Geräuschkulissen (mehr oder weniger) provokant und verstörend aufzugreifen, sowie Ungehörtes und Unerhörtes dem Schweigen oder der Tabuisierung zu entreißen. Auf diese Weise werden nicht nur ‚Störgeräusche‘ – und Resonanzen – in der Arzt-Patient*innenkommunikation hörbar, sondern unter anderem auch folgende Fragestellungen ‚laut‘:

  • literarische und filmische Repräsentation von Geräuschen in der Medizin in synchroner und in diachroner sowie in genrespezifischer Perspektive (durchaus auch im Sinne eines Beitrages zu einer ‚akustischen Medizingeschichte‘); auch Beiträge zu ‚pandemischen Geräuschkulissen‘ sind herzlich willkommen.
  • ästhetische Strategien, um Geräusche (in) der Medizin hörbar zu machen oder zu visualisieren sowie (gegendiskursive) Ressourcen und Potentiale literarisierter medizinischer Geräuschkulissen in unterschiedlichen Gattungen
  • epochenspezifische Unterschiede in der Darstellung von Medizingeräuschen beispielsweise im Sinne ‚typisch‘ naturalistischer medizinischer Geräuschkulissen
  • literarische Transposition der Unterschiede medizinischer Geräusche je nach medizinischer Fachrichtung, beispielsweise Unterschiede zwischen palliativmedizinischem ‚Lärm‘, psychiatrischem ‚Lärm‘ (der unter Umständen durch seine Unterdrückung in Form von Sedierung und Ruhigstellung gekennzeichnet ist) und chirurgischem ‚Lärm‘
  • genderspezifische literarische Lärmdarstellung, bspw. die ‚laute‘ weibliche Hysterie
  • Sichtbarmachung der kulturellen Grundierung der Medizin, beispielsweise wenn ‚schulmedizinischer‘ Lärm den Geräuschkulissen ‚alternativer‘ Heilmethoden (beispielsweise Voodoo-Rituale) gegenübergestellt wird bzw. Interferenzen entstehen.
  • Arzt-Patient*innenkommunikation im Spiegel der Literatur, auch (aber nicht nur) im Sinne einer ‚gegendiskursiven‘ Ressource
  • Standardisierung (und Entschärfung?) des ‚Lärms der Medizin‘ (beispielsweise des Schmerzes) in medizinischen Lehrbüchern und Fachtexten sowie sein Verhältnis zur literarischen Darstellung
  • Rolle des literarischen Textes – und der verschiedenen literarischen Gattungen – beim Erwerb von sonic skills (Harris/Flynn 2017, 79-84; Bijsterveld 2019)

In den Geschichtswissenschaften erschließt sich an den Berührungspunkten der relativ jungen und immer noch randständigen Sound History und der Emotionen- und Körpergeschichte ein weites Feld. Einzelne Arbeiten aus der Medizin- und Psychiatriegeschichte regen zu weiteren Fragestellungen an. Beispielsweise untersuchte Katherine Fennelly anhand von architektonischen Reformprojekten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Effekte von Lärmkontrolle und Lärmmanagement in frühen Irrenhäusern (Fennelly 2014) und Dolly MacKinnon rekonstruierte die historischen Klanglandschaften der Psychiatrie unter dem Titel „Hearing Madness and sounding cures“ (MacKinnon 2017). Während aber für zeithistorische Fragestellungen historische Tonaufnahmen ausgewertet werden können, lässt sich die Geschichte früherer Epochen akustisch nicht erschließen. Die Unhörbarkeit der Vergangenheit (Müller 2011) als positive Herausforderung begriffen, (ver)führt zu einem „aural turn“ (Yablon 2007; Müller 2011) und in der Quellenarbeit zu methodologischen Bemühungen um eine Überwindung der „Sound Barrier“ (Bailey 1996). Ausgehend von dem Interesse an einer Rekonstruktion vergangener akustischer Wahrnehmungen und Klanglandschaften in der Medizin lassen sich für unsere Tagung eine Reihe von Themenstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven (Schmerzgeschichte, patient*innenorientierte Medizingeschichte, Psychiatriegeschichte, Musikgeschichte, Sound History etc.) aufgreifen, beispielsweise zu:

  • historischen Konzepten von therapeutischer Stille, Klängen, Musik;
  • akustischer Wahrnehmung von Heilanstalten, Arztpraxen, Sanatorien;
  • sozialer Exklusivität einer ruhigen Umgebung vs. soziale Zuschreibungen von lärmenden als krankmachenden Umgebungen;
  • Konzeptionen von Krankheiten des Hörens;
  • Lärm von Innen: Tinnitus, Stimmen hören;
  • historischen Artikulationen von Schmerz;
  • zum Verstummen bringen: Knebel in der Psychiatrie, Anästhesie, pharmazeutische Schmerzstiller etc.

In der Linguistik beschäftigt man sich intensiv mit medizinischer Kommunikation und Interaktion. Gerade das Thema ‚Schmerz‘ bietet mit Blick auf Akustikphänomene ein interessantes Forschungsgebiet, das thematisch über den Einsatz von apparativen Verfahren und Akustik, der Koordination zwischen Geräuschen und anderen Zeichenressourcen bis hin zu diskurslinguistischen Studien zu Ton und Akustik in der Medizin das ganze Spektrum der Begrifflichkeit und Semantik von Akustikausdrücken, ihren Metaphern und Phraseologismen bis hin zu non-verbalen semiotischen Repräsentationsformen umfasst. Ergänzend findet sich der Bereich diskursanalytischer Studien zur Arzt-Patient*innen-Interaktion, der auch mit Blick auf Noise of Medicine in unterschiedlichen Perspektivierungen großes Spannungspotential aufweist. Denkbar wären Themen wie:

  • diskurslinguistische Studien zu Noise und Medicine
  • Ausdrucksformen von Akustischem in der Medizin: beispielsweise Metaphern und Phraseologismen
  • Schmerzlaute und Interaktionen
  • Akustik von Apparaten und medizinischen Instrumenten
  • Geräusche, Koordination zwischen Geräuschen und anderen Zeichenressourcen
  • u.v.m.

Was eine genuin translationswissenschaftliche Perspektive betrifft, ist davon auszugehen, dass auch Fachkommunikation in einer kulturell gestalteten Umwelt stattfindet und auch ein Fachbereich wie jener der Medizin in vielerlei Hinsicht von – kulturell geprägten – Akustikphänomen in diversen kommunikativen Settings und Diskursformen (z.B. Hospital sound in Notaufnahmen, Ambulanzen, Arztpraxen; Geräusche als Symptom…) geprägt ist. Töne, Laute und Geräusche spielen in kulturellen Orientierungsmustern in Form vielschichtiger Muster eine Rolle, sie sind Informationsträger und rhythmisieren und strukturieren Alltags- wie auch Fachwelten. Die Sprache der Medizin und Gesundheitskommunikation ist – konkret wie metaphorisch – voll von Akustikbezügen, sei es in Prävention, Diagnostik, Therapie und Pflege, sei es in assoziierten Fach- und Wissenschaftsbereichen der Medical Humanities. Dies gilt auch für spezifischere Settings, Textsorten und Diskursformen wie z.B. Sozialkampagnen oder die Risikokommunikation in der Medizin. Akustische Orientierungsmuster prägen den Wissenschaftsdiskurs genauso wie die klinische Praxis oder auch die kreativ-künstlerische Verarbeitung in literarischen Texten. Kommt abgesehen vom fächer- und diskursformenübergreifenden intrakulturellen Transkodieren und Popularisieren noch sprach- und länderübergreifender Kulturtransfer in einer globalisierten Umgebung hinzu, ergibt sich ein anspruchsvolles Anforderungsprofil an die Translationsleistung – und damit an die Translationswissenschaft. Hier sind vor allem die für den Kulturtransfer relevanten sozio-kulturellen Implikationen in den verschiedenen Subsystemen sowohl aus medizin- wie auch aus translationssoziologischer Sicht eine Herausforderung. Es wäre dementsprechend spannend, mit Blick auf Inter- und v.a. auch Transkulturalität zu untersuchen, inwieweit Akustisches, Töne, Laute und deren Assoziationen als kulturdeterminierte Größe in der Medizin- und Gesundheitskommunikation in Erscheinung treten, welche Relevanz ihnen – mit Blick auf soziokulturelle Implikationen – damit auch in Übersetzung und/oder Verdolmetschung zukommt oder wie sich diese Phänomene in kreativer Form in literarischen Texten und Literaturübersetzung wiederfinden. Denkbar wären u.a. Themenstellungen zu:

  • Hospital sound als kulturelle Orientierungsmuster
  • Akustikphänomene in Diskursformen, Textsorten und Settings der Medizin und ihre Translationsrelevanz
  • Akustikphänomene in Dolmetschsettings
  • Risikokommunikation und Translationssoziologie
  • Kulturtransfer, Inter- und Transkulturalität
  • Inter- und intrakulturelles Transkodieren und Popularisieren
  • Noise of Medicine in Literatur und Literaturübersetzung

Viele auf den ersten Blick rein ‚medizinisch‘ anmutende Fragestellungen können somit, aus kulturwissenschaftlichem Blickwinkel gesehen, neue und vor allem inter- und transdisziplinäre Perspektivierungen erfahren, die zu Synergieeffekten führen. Vorstellbar wären folgende medizinische Fragestellungen und Problembereiche, um nur einige zu nennen:

  • Bestandsaufnahme der Geräusche hochtechnisierter Medizin, auch in ihrer Unterschiedlichkeit je nach medizinischer Spezialisierung und im Hinblick auf Diagnostik
  • Verhältnis: Medizin – Maschine – Mensch (gerade auch relevant in Bezug auf Covid-19)
  • Legitimität des Gegensatzes zwischen ‚lauter‘ (apparativer, evidenzbasierter) Medizin und ‚leiser‘ Medizin, letztere verstanden als eine ‚Heilkunst‘, die die Stimme der Patient*innen (und Ärzt*innen) hörbar macht sowie das Schweigen auf beiden Seiten anerkennt und hörbar macht
  • Interventionsmöglichkeiten, um die Stimme der Patient*innen hörbar zu machen
  • Geräusche als Krankheitsbild (beispielsweise im Fall von Tinnitus, Psychosen etc.); Geräusche als Therapeutikum (beispielsweise Humor und Lachen, Musik)
  • Erwerb von (kulturspezifisch grundierter) sonic knowledge (Rice 2012, 305) und sonic skills (Harris/Flynn 2017, 79-84; Bijsterveld 2019) beim medizinischen Personal
  • u.v.m.

Aufgrund der Covid-19 bedingten Verschiebung der Tagung können noch bis zum 30. Oktober 2020 Vorschläge in deutscher oder englischer Sprache (ca. 500 Wörter) eingereicht werden, und zwar an Julia.Proell@uibk.ac.at.
In begründeten Fällen, vor allem wenn Reise- und Unterkunftskosten von Ihrer Heimatinstitution nicht getragen werden, werden wir versuchen, einen finanziellen Zuschuss zu leisten.

Beitrag von: Julia Pröll

Redaktion: Robert Hesselbach