In seiner vielbeachteten Studie Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (2016) hat der Soziologe Oliver Nachtwey eine Krisenerzählung vorgelegt, in der endgültig das Wirtschaftswunder-Narrativ vom „Aufstieg für alle“ zu Grabe getragen wird. „Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration“, so Nachtwey, „ist […] eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden“ (Nachtwey 2016: 8). Diese Diagnose steht auf den ersten Blick im Widerspruch zum immer höheren Reichtum des Staates – zumindest hierzulande. Das liegt einerseits an der Inkongruenz von Zahlen und Stimmungen, da nicht unbedingt der faktische Absturz zu den Merkmalen einer Abstiegsgesellschaft zählt, sondern, so Nachtwey, die allgegenwärtige und zunehmende Angst vor Statusverlust, die sich nicht zuletzt in politisch diffusen Protestbewegungen, wie etwa Pegida, den Gilets Jaunes oder jüngst den sog. Hygiene-Demos, entlädt. Andererseits werden zwar Gesellschaften reicher, aber die unteren Schichten profitieren kaum davon, da sich soziale Ungleichheiten zusehends verschärfen und selbst eher konservative Zeitkritiker von einer „neuen Klassengesellschaft“ (Nolte 2006: 96) sprechen. Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben diese Zuspitzung der sozialen Ungleichheit in ihrer Studie Enrichissement (2017) auch für Frankreich umfassend dargestellt und kommen zu ähnlichen Befunden, wenngleich in deutlich gravierenderer Form. Die sowohl reale als auch gefürchtete Prekarisierung, verstanden als „Erosion von Normalitätsstandards“ (Dörre 2017: 259), ist längst zum Politikum geworden und lässt sich aufgrund ihres relationalen Charakters auf alle möglichen Ungleichheitskategorien anwenden, seien es Herkunft, Schicht, Alter, Geschlecht, etc. In Gesellschaften jedoch, in denen die androzentrische Ordnung immer noch die Norm darstellt, betrifft diese Erosion nicht zuletzt auch die Vorstellungen von „hegemonialer Männlichkeit“ (Connell) sowie die Legitimationsstrategien „männlicher Herrschaft“ (Bourdieu) und erhebt das wesentliche Kriterium von Prekarität, nämlich die Verunsicherung, zur dominanten gesellschaftlichen Grundstimmung, die nicht nur die speziell männlichen Erwerbsbiografien, sondern Männlichkeit allgemein nachhaltig prägt.

Überraschenderweise sieht der Soziologe Nachtwey ausgerechnet in der Literatur einen „sensible[n] Seismograf für diesen Wandel“ (Nachtwey 2016: 8) und stützt sich dabei auf folgende Beobachtung: „Erzählt die Literatur von der sozialen Gegenwart, schildert sie Geschichten des Scheiterns, der Unsicherheit, Abstiege und Abstürze. […] Literatur ist keine Gesellschaftsdiagnose, aber häufig weiß sie trotzdem viel Wahres über die Realität zu berichten“ (Ebd.: 9) – auch Markus Rieger-Ladich versteht die Literatur als „Erkenntnisquelle“ und „Archiv“ für die sozial- und bildungswissenschaftliche Gesellschaftsanalyse (vgl. Rieger-Ladich 2014). Wenn man nun mit Walter Erhart Männlichkeit nicht nur als rein soziale Konstruktion, als das Produkt von Zuschreibungen und normatives Herrschaftsmodell begreift, sondern als „narrative Struktur“ (vgl. Erhart 2005), lassen sich die soziologischen Diagnosen mit literaturwissenschaftlichen Modellen in Einklang bringen, wie es Nachtwey zumindest andeutet. Und tatsächlich lässt sich vor allem seit der Finanzkrise 2008 in der Literatur eine erhöhte Frequenz von Abstiegsnarrativen beobachten, die auch Auswirkungen auf die narrativen Strukturen von Maskulinitäten zeitigen, was gesellschaftspolitisch mit dem „Ende der Hegemonie geschützter, männlich dominierter Vollzeitbeschäftigung“ (Dörre 2009: 8) einhergeht. Da diese Form der Erwerbsarbeit immer noch zu den Hauptkriterien eines geglückten männlichen Selbstentwurfs gehört (vgl. Meuser 2012), verwundert es kaum, dass der Verlust von Sicherheit und Aufstiegsversprechen neue Narrative hervorbringt, wie etwa in Romanen von Clemens Meyer, Christian Baron, Édouard Louis, Almudena Grandes, Nicolas Mathieu oder Virginie Despentes zu beobachten ist: Die Abgehängten, die Arbeits- und Obdachlosen und Neo-Proletarier, aber auch die stets von Prekarität bedrohten Kreativen und Akademiker bevölkern die zeitgenössischen Gesellschaftsromane, die solcherart zu Debatten „über Ausmaß und Facetten der reak-tualisierten sozialen Frage“ (Dörre 2009: 16) anregen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch eine Wiederkehr literarischer Formen beobachten, die sich in der Tradition engagierter Literatur verorten lassen, indem soziologische Diagnosen mit fiktionalen oder autobiografischen Erzählmustern kombiniert werden, etwa in autosoziobiografischen Texten von Didier Eribon, Annie Ernaux oder J. D. Vance (dazu Spoerhase 2017). Hier wird ein literarischer Anspruch aktualisiert, der mindestens zu Jean-Paul Sartre, James Baldwin oder Franz Fanon zurückreicht, wenn nicht sogar auf vormoderne sozialkritische Gattungen wie den Schelmenroman oder die Essayistik und Farcenkomik der Frühen Neuzeit.

Die zeitgenössischen Erzählungen von Abstieg und Spaltung, die gewissermaßen eine „poétique de la précarité“ (vgl. Böhm/Kovacshazy 2015) zur Schau stellen, sind natürlich nicht dem Prosa-Roman vorbehalten. Auch in anderen Literatur- oder Kunstformen wird der prekäre Mann porträtiert: Das Kino (in Frankreich das Cinéma de banlieue, in Deutschland der neue Realismus von Andreas Dresen, Christian Petzold oder Burhan Qurbani) oder der Comic (etwa TMLP von Gilles Rochier, das Journal von Fabrice Neaud oder die Werke Barus) stellen die soziale Frage ebenfalls – wie die Prosaliteratur neigen sie dabei zu autofiktionalen Erzählstrategien.

Der Band dient dazu, den Diskurs über die sog. „neue Unterschicht“ (Altenhain et al. 2008) und deren Akteure aus literatur- und medienwissenschaftlicher Sicht zu reflektieren, um darauf aufbauend nach neuen Narrativen und Sozialfiguren zu suchen, die sich in Auseinandersetzung mit der hegemonialen Norm, etwa des homo oeconomicus (vgl. Habermann 2008), ergeben. Die literarischen und filmische Darstellungen prekärer Männlichkeitsentwürfe, so die Ausgangsbeobachtung, verfolgen mit ihren narrativen Strukturen vornehmlich sozioökomische Dynamiken des Auf- oder Abstiegs, des Wettbewerbs, der Entwertung oder des Klassenkampfes und lassen sich dergestalt tatsächlich als Seismografen des gesellschaftlichen Umbruchs lesen. Folgende Schwerpunkte und Leitfragen können helfen, die prekären Männer zu verorten, die uns in literarischen und anderen Texten (im weitesten Sinne des Wortes) begegnen:

1. Historisierung prekärer Männlichkeit in literarischen Texten und (audio-)visuellen Medien von der Vormoderne bis ins 20. Jahrhundert (z. B. Schel-menroman, Realismus, Naturalismus, Texte der Weimarer Republik, Nachkriegsliteratur)
2. Prekarität als Herausforderung für den sozialen Aufstieg in autobiografischen /-fiktionalen Texten (sog. transclasse; vgl. Jaquet 2014) und Filmen
3. Marginalisierung, Exklusion und soziale Abjektion (vgl. Tyler 2013, Schuhen 2018, Weber 2020) prekärer Männlichkeiten
4. Soziales, ökonomisches, symbolisches und kulturelles Kapital: Welche Formen von Prekarität sind an der Konstruktion eines defizitären Männlich-keitsentwurfs beteiligt? Und wie tragen die Männer zur Konstruktion bzw. Festigung dieses Entwurfs bei?
5. Mediale und genrespezifische Besonderheiten: Welche Medien eignen sich wie und warum zur Erzählung männlicher Prekarität? Warum sind so viele Erzählungen über Prekarität medienunabhängig autofiktional?
6. Ästhetisierung prekärer Männlichkeiten: Inwiefern wird in Prosa, Film und Comic zu einer Typisierung/Romantisierung prekärer Männlichkeit (z. B. des darbenden Künstlers und Intellektuellen) beigetragen?

Der geplante Band soll im Sommer 2021 im transcript-Verlag erscheinen. Bitte senden Sie uns ein Abstract von ca. 5.000 Zeichen bis zum 15. Oktober 2020 zu.
Kontaktadressen:
Gregor Schuhen (Koblenz-Landau): schuheng@uni-landau.de
Marie Schröer (Potsdam): schroeer3@uni-potsdam.de
Lars Henk (Koblenz-Landau): henk@uni-landau.de

Bibliografie:
Altenhain et al. (2008) (Hrsg.): Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, Bielefeld.
Böhm, Roswitha / Kovaczhazy, Cécile (2015) (Hrsg.): Précarité. Littérature et cinéma de la crise au XXIe siècle, Tübingen.
Boltanski, Luc / Esquerre, Arnaud (2017): Enrichissement. Une critique de la marchandise. Paris (dt.: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Frankfurt/M. 2018).
Dörre, Klaus (2009): „Männer im Prekariat – prekäre Männlichkeit(en)“, Vortragsmanuskript, Tagung: Prekäre männliche Lebenswelten – Männer im Prekariat, Berlin, 27.–28.2.2009.
Dörre, Klaus (2017): „Prekarität“, in: Hirsch-Kreinsen, Hartmut/ Minssen, Heiner (Hrsg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. 2. Auflage. Baden-Baden, 258-262.
Erhart, Walter (2005): „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30, 156–232.
Habermann, Friederike (2008): Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation, Baden-Baden.
Jaquet, Chantal (2014): Les transclasses ou la non-reproduction, Paris (dt.: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht, Konstanz 2018).
Nachtwey, Oliver (2016): Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frank-furt/M.
Nolte, Paul (2006): Riskante Moderne. Die Deutschen und der Neue Kapitalismus, München.
Rieger-Ladich, Markus (2014): „Erkenntnisquellen eigener Art? Literarische Texte als Stimulanzien erziehungswissenschaftlicher Reflexion“, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 3, 350–367.
Schuhen, Gregor (2018): „Refus d’accès. Fractures sociales et masculinités abjectes dans le cinéma de banlieue“, in: Bontemps, Véronique / Mermier, Franck / Schwerter, Stephanie (Hrsg.): Les villes divisées. Récits littéraires et cinématographiques, Villeneuve-d’Ascq, 121–137.
Spoerhase, Carlo (2017): „Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse“, in: MERKUR 71, 27–37.
Tyler, Imogen (2013): Revolting Subjects. Social Abjection in Neoliberal Britain, London/New York.
Weber, Rebecca (2020): Abjekte Grenzgänge®: Körper und Widerstand im lateinamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts, Berlin.

Beitrag von: Lars Henk

Redaktion: Robert Hesselbach