Stadt: Augsburg

Frist: 2021-01-30

Beginn: 2021-10-04

Ende: 2021-10-07

Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des Kontakts. Hin- und hergerissen zwischen Frieden und Krieg, Integration und Abgrenzung, Freundschaft und Rivalität geht die europäische Identität aus dem Prozess eines fortwährenden Austarierens von Nähe und Distanz hervor. Dieses – im Vergleich zu anderen Kontinenten – kleine Europa, auf dessen Fläche sich eine verhältnismäßig große Zahl von Staaten, Gesellschaften und Bevölkerungsgruppen tummelt und das zudem immer wieder von Außen kommende Impulse in sich aufgenommen bzw. nach Außen weitergegeben hat, scheint in einer ganz besonderen Weise durch Dynamiken des Kontakts geprägt zu sein. Gerade das Jahr 2020 hat uns durch Grenzsperrungen, Ansteckungsängste und das Gebot der sozialen Distanzierung wieder vor Augen geführt, welchen grundlegenden Stellenwert Kontakt für unseren gemeinsamen europäischen Alltag hat.

Der Begriff des Kontakts eröffnet eine Metaphorik des Berührens, die immer auch das Moment eines Berührt-Werdens mit einschließt. Diese Reziprozität oder Relationalität des Kontakts ist vielleicht nirgendwo so stark ausgeprägt wie in den Sprach- und Kulturräumen der Romania, die im Laufe ihrer Geschichte – insbesondere aufgrund ihrer gemeinsamen Vorläufersprache und der sich hieraus ergebenden sprachlichen Nähe – von interkulturell wirksamen Vernetzungsdynamiken ergriffen wurden. Dies gilt insbesondere für die Epoche der Frühen Neuzeit, die sich nicht nur durch technisch-mediale Innovationen wie die Erfindung des Buchdrucks und die Entstehung eines internationalen Postwesens, sondern auch durch gemeinsam geteilte, aber auch immer wieder transnational verhandelte religiös-weltanschaulich geprägte Wertvorstellungen auszeichnet. Medial konfigurierte Diskursereignisse, nicht zuletzt die Literatur und ihre sich zunehmend internationalisierende Rezeption, erweisen sich dabei als bevorzugter Berührungsraum, in dem sich in der Frühen Neuzeit kultureller Kontakt ereignen kann.

In seinem literalen Wortsinn verweist der Kontakt auch auf das Taktile und damit auf das sinnliche Evaluieren und Genießen der materiellen Konstituenten präsentischer Welterfahrung. Berührungen können grob, zärtlich, tastend, verletzend sein; sie sind aber vor allem ein Weg, sich in die unmittelbare Nähe eines Anderen zu begeben. Kontakt erweist sich vor diesem Hintergrund als Erfahrung, Hervorbringung und Gestaltung von Alterität. Demgemäß ließe sich die Begegnung – oder auch Berührung – mit dem Fremden als „Dialog mit selbstständigen Subjekt-Positionen“ bzw. als „Kategorie einer konstruktiven Dialektik“ verstehen (Krusche 1990: 13), die dem Prozess der Selbst- und Fremdheitserfahrung zugrunde liegt: „Selbstheit und Eigenheit”, so Waldenfels, „entspringen einer Grenzziehung, die ein Drinnen vom Draußen absondert und somit die Gestalt einer Ein- und Ausgrenzung annimmt” (2006: 30). In diesem Sinne ist es paradoxerweise gerade auch der fehlende bzw. ausbleibende Kontakt, der Selbst- und Fremdzuschreibungen, Projektionen und Abgrenzungsprozesse befördert, die Familiarisierung mit dem als fremd Erfahrenen behindert und Stereotype sowie Angst- und Feindbilder festschreibt. Das Paradigma des Kontakts verspricht vor diesem Hintergrund, die spannungsreichen – und gerade als solche identitätsstiftenden – Dynamiken des europäischen literarischen und kulturellen Austauschs zwischen produktiver Interrelationalität und Prozessen der Differenzierung und Abgrenzung zu beschreiben.

Ein solcher Zugang erlaubt es gleichsam, Literatur in ihrer Funktion als distanzüberbrückendes Medium bzw. als Kontaktmedium zu begreifen. Ursprünglich mündlich tradierte Formen der Literatur wie die chanson de geste, das (Volks-)Märchen oder der Ritterroman basieren auf der Synchronität von Produktion und Rezeption und reflektieren ihren eigenen Status im Text selbst. Dramatische Texte und lyrische Formen sind von vornherein auf Performanz und sinnliche Kommunikation angelegt und erhalten ihr volles Bedeutungspotential erst im Moment der Aktualisierung – nicht umsonst richtet sich Petrarca im ersten Sonett des Canzoniere an seine Zuhörer*innen, „voi, ch’ascoltate“, und nicht an ein etwaiges Lesepublikum. Demgegenüber stehen schriftgebundene Gattungen wie die Novelle und das Kunstmärchen, die eine Kultur der Mündlichkeit künstlich zu erzeugen suchen (Aust spricht im Kontext der Novelle von einer „Gesprächsorigo”, 2006: 3), indem sie Präsenz, Körperlichkeit und Nähe nicht nur simulieren, sondern auch konfigurieren. Basierend darauf ließe sich systematisch danach fragen, welche Formen des In-Kontakt-Tretens bzw. der Dialogizität in literarischen Texten zum Tragen kommen. Dies wird umso sinnfälliger in Umbruchzeiten wie der Renaissance und den folgenden Jahrhunderten, in denen sich der technisch-materiell bedingte Übergang von einer Kultur der Mündlichkeit (und damit des Kontakts) zu einer Kultur der Schriftlichkeit (bzw. der Distanz) andeutet.

Das Paradigma des Kontakts in der Literatur der frühen Neuzeit erlaubt Reflexionen unter anderem in Hinblick auf die folgenden Aspekte:

  • Untersuchungen poetologischer bzw. motivgeschichtlicher Natur: Welche Varianten der Metaphorik des Berührens und des Kontakts kommen in der Literatur zum Tragen und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Durch welche Verfahren werden Phänomene wie Zärtlichkeit, Freundschaft oder Feindschaft literarisch thematisiert? Welche Vorstellungen von Affekt und Körperlichkeit liegen ihnen zugrunde?
  • Kulturkontakt: Inwiefern bezeugen literarische Texte Phänomene wie Wissenstransfer oder Interkonfessionalität? Inwiefern werden europäische bzw. kulturübergreifende Identitäten generiert? Und im Umkehrschluss: Welche Alteritätsentwürfe werden dabei hergestellt?
  • Medialität und Intertextualität: Inwiefern reflektiert die Literatur ihren eigenen medialen Status als Distanz- bzw. als Kontaktmedium? Durch welche in- und extrinsischen Merkmale zeichnet sich hierbei die Literatur im Unterschied zu anderen Kunst- und Diskursformen aus? Welche nationalen, internationalen bzw. europäischen Netzwerkstrukturen liegen der literarischen Produktion zugrunde? Welche Phänomene literarischer Dialogizität lassen sich dabei beobachten?

Wir freuen uns auf Ihre Beitragsvorschläge (max. 600 Wörter inkl. Auswahlbibliographie), die bis zum 30.01.2021 an die folgenden Adressen gesendet werden können: christoph.gross@rub.de (Christoph Groß, Ruhr-Universität Bochum) und Schoenwaelder@em.uni-frankfurt.de (Lena Schönwälder, Goethe-Universität Frankfurt am Main).

Beitrag von: Lena Schönwälder

Redaktion: Robert Hesselbach