Stadt: Ruhr-Universität Bochum

Frist: 2021-07-30

Beginn: 2022-03-30

Ende: 2022-04-01

URL: https://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Dirk.Brunke/download/forschungskolloquium_brunke_schlieper.pdf

Einsatz der Affekte:
Momente der Alteritätserfahrung im Schrifttum der europäischen Expansion (1460–1700)

Forschungskolloquium an der Ruhr-Universität Bochum
30. März – 1. April 2022

Das Schrifttum der europäischen Expansion – d.h. jene Texte, die im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Vereinnahmung der beiden Amerikas, des Fernen Ostens und des Mittelmeerraumes entstehen – umfasst ein breites Spektrum an Textsorten, so etwa Bordbücher, Briefe, Reise-, Schiffbruch- und Gefangenenberichte sowie verschiedene Formen der Historiographie und Kosmographie. Aufbauend auf den wegweisenden Studien von Todorov (La conquête de l’Amérique, 1982) und Greenblatt (Marvelous Possessions, 1991) zur Imagologie der ‚Eroberungen‘, hat sich die Forschung diesem Textkorpus bislang unter recht heterogenen Gesichtspunkten genähert. Zunächst sind die historische Fiktionstheorie (vgl. grundlegend Hempfer 2002, weiterführend und am Beispiel der Conquista Mexikos Carman 2006) und Studien zur Narrativierung von Geschichte (im Sinne Hayden Whites) zu nennen, die die fließenden Grenzen zwischen Fakt und Fiktion ebenso thematisieren wie die Nicht-Abgrenzbarkeit der genannten Textsorten zu im modernen Sinne literarischen Texten, wie sich dies paradigmatisch an Cabeza de Vacas Naufragios aufzeigen lässt. Besonderes Interesse gilt außerdem der Dynamisierung von Diskurstraditionen und Gattungsgrenzen, die im Dienst komplexer Legitimationsverfahren stehen kann, wie etwa in Cortés’ Cartas de relación (vgl. hier auch Frömmer 2018 zu Kolumbus und Vespucci). Darüber hinaus werden Fragen des autobiographischen Erzählens und der Emergenz frühneuzeitlicher Subjektivität diskutiert (vgl. Penzkofer 2016 resp. Gumbrecht 1987 und Folger 2011), wie sie sich beispielhaft in Jean de Lérys Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil und den Comentarios reales des Inca Garcilaso darstellen.

Das geplante Forschungskolloquium setzt an diesem Punkt an, um das Schrifttum der europäischen Expansion auf den gemeinsamen Einsatz von Affekten hin zu befragen. Hierbei kann von der leitenden Beobachtung ausgegangen werden, dass den Momenten der Alteritätserfahrung, auf die die genannten und zahlreiche weitere einschlägige Texte des hier betrachteten Zeitraums gründen, ein spezifisches Affektpotenzial eigen ist: Die dargestellte Begegnung mit dem Anderen steht konstitutiv im Zeichen des instantanen, starken und nicht steuerbaren ‚Ergreifens‘. Den komplexen Verfahren der Verschriftlichung und Darstellung, aber auch der bewussten Ausklammerung ebendieses Affektpotenzials nachzugehen, lohnt nun aus drei Gründen: Die hier interessierenden Texte sind erstens Dokumente der Zeitgeschichte, die zwar vordergründig Anspruch auf Referenzialität erheben, in die aber zugleich die jeweils individuelle Erfahrung (mit) der Alterität eingeschrieben ist. Es handelt sich zweitens um dezidiert adressatenorientierte und handlungspragmatisch ausgerichtete Texte, in denen Affekte strategisch mit Blick auf Publikations-, Gebrauchs- und Rezeptionskontexte zum Einsatz kommen. Schließlich und drittens ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in Betracht zu ziehen, dass sich der jeweilige dokumentarische Anspruch eben auch an dezidiert poetischen Mitteln und Formen bemisst, die vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Diskussion und Neubewertung der Affekte (vgl. hierzu grundlegend Steiger 2005 sowie jüngst Matzat 2020) auch im Schrifttum der Expansionszeit eine ganz eigene Prägung erhalten.

Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich vier mögliche Fragenkomplexe, die für die gemeinsame Diskussion des Forschungskolloquiums leitend sein können:

(1) Völlig zu Recht hat Greenblatt den Blick auf die Affekte des Staunens und Bewunderns gelenkt, gleichwohl ist die Bandbreite der Affekte im Angesicht des Fremden weitaus breiter. Hiervon ausgehend ist zu fragen, ob es Affekte gibt, die typisch für die Alteritätserfahrung sind und deshalb in den Texten rekurrent in Erscheinung treten?

(2) Es stellt sich die Frage, welche Funktionen den Affekten zugeschrieben werden, und dies sowohl textintern durch die jeweiligen Redeinstanzen als auch textextern in wirkungsästhetischer und textpragmatischer Hinsicht? Dabei ist auch zu bedenken, dass eine Vielzahl der hier betrachteten Texte ostentativ (und mit entsprechendem Erfolg) ein Affektspektrum freisetzen, das sich von der moralphilosophischen Diskussion über Affektkontrolle und ‚-dämpfung‘ nur umso deutlicher abhebt.

(3) Gibt es spezifische Orte der Affekterfahrung? Diese Frage stellt sich angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Berichte etwa dem Ort des Schiffs und der Überseefahrt prominenten Platz einräumen und die existentielle Bedrohung des Meeres ebenso mit affektgeladenen Momentaufnahmen verbinden wie die Szenen des Abschieds, etwa im Hafen von Palos, und der Ankunft in der Fremde.

(4) Privilegierte (und von der Forschung entsprechend vielkommentierte) frühneuzeitliche Gattungen der Ausgestaltung von Affekten sind Tragödie und Elegie. Im Gegensatz zu diesen Gattungen können die Texte des hier interessierenden Korpus nur in Einzelfällen und bedingt auf eine historische Gattungspoetik zurückgreifen. Wie oben benannt, bewegen sie sich mehrheitlich im Überschneidungsfeld von Diskursen und Gattungstraditionen. Von daher ist auch zu fragen, ob sich der textstrukturelle Ort der Affekte verändert, und zwar im Sinne einer Verschiebung des gattungsspezifischen Einsatzes von Affekten. Zeigt sich so etwa die Dynamisierung von Gattungsgrenzen darin, dass elegische Verfahren der Affektrepräsentation im Zeichen von Expansions- und Alteritätserfahrungen adaptiert und transformiert werden?

Das Forschungskolloquium hat anhand dieser Fragen zum Ziel, Texte der europäischen Expansion auf ihren jeweiligen Einsatz von Affekten hin zu betrachten. Der vorgeschlagene Untersuchungszeitraum 1460-1700 wird gerahmt vom Tod Heinrich des Seefahrers, der die Initialphase der europäischen Expansion beschließt, und Maria Sibylla Merians Forschungsreise nach Surinam (1699-1701), die dahingehend als historische Zäsur lesbar ist, dass sie einen entschieden neuen, eben aufklärerisch interessierten Blick auf ‚das Andere‘ begründet. Vor dem skizzierten Hintergrund sind Beiträge willkommen, die exemplarische Texte dieses Zeitraums aufgreifen, einzelne oder übergreifende, transnationale Kontexte beleuchten sowie die vorgeschlagenen Fragestellungen aufgreifen und/oder weiterentwickeln.
Wir bitten um die Einreichung von Abstracts bis zum 30. Juli 2021.

Zitierte Literatur
Carman, Glen, Rhetorical Conquests. Cortés, Gómara, and Renaissance Imperialism, West Lafayette: Purdue University Press 2006.
Folger, Robert, Writing as Poaching. Interpellation and Self-Fashioning in Colonial relaciones de méritos y servicios, Leiden, Boston: Brill 2011.
Frömmer, Judith, Italien im Heiligen Land. Typologien frühneuzeitlicher Gründungsnarrative, Konstanz: Konstanz University Press 2018.
Gumbrecht, Hans Ulrich, „Wenig Neues in der Neuen Welt. Über Typen der Erfahrungsbildung in spanischen Kolonialchroniken des XVI. Jahrhunderts“, in: Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle (Hg.), Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, München: Fink 1987, S. 227–252.
Hempfer, Klaus, Grundlagen der Textinterpretation, Stuttgart: Steiner 2002, insb. Kap. II: „Fiktion und Narration“.
Matzat, Wolfgang, „Frühneuzeitliche Kritik und Kontrolle der Affekte“, in: Giulia Agostini, Herle-Christin Jessen (Hg.), Pathos. Affektformationen in Kunst, Literatur und Philosophie. Festschrift zu Ehren von Gerhard Poppenberg, Paderborn: Fink, Brill 2020, S. 493–519.
Penzkofer, Gerhard, „Lazarillo bei den Thunfischen oder die amerikanische Erfindung der Perspektive“, in: Wolfram Nitsch, Christian Wehr (Hg.), Artificios. Technik und Erfindungsgeist in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, Paderborn: Fink 2016, S. 63–97.
Steiger, Johann Anselm (Hg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, 2 Bde., Wiesbaden: Harrassowitz 2005.

Kontakt
Dr. Dirk Brunke
Ruhr-Universität Bochum
Romanisches Seminar
dirk.brunke@rub.de

Jun.-Prof. Dr. Hendrik Schlieper
Universität Paderborn
Institut für Germanistik und Vergl. Literaturwissenschaft
hendrik.schlieper@upb.de

Beitrag von: Dirk Brunke

Redaktion: Robert Hesselbach