Stadt: Wien

Frist: 2021-05-15

Beginn: 2021-12-01

Ende: 2021-12-03

Konzept und Organisation: Teresa Hiergeist und Christina Wieder (Universität Wien)

Die Ehe stellt das Sozialmodell par excellence der bürgerlichen Moderne in der Romania dar. Mit der Integration von Liebe, Freundschaft und Sexualität (vgl. Luhmann 1994, 150) schafft sie den Brückenschlag zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, die integriert individuelle Sehnsüchte und soziale Verpflichtungen, Intimität und gesellschaftliche Kohäsion (vgl. Simmel 1993, 348-354), Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit, Ekstase und Institutionalisierung, Gleichheit und patriarchalischer Hierarchie und korrespondiert damit in besonderer Weise mit den Werten, Normen und Herausforderungen der westlichen Gesellschaften des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Eingebettet in soziale Praktiken und Anerkennungsprozesse (vgl. Bethmann 2013) und körperliche Routinen umfassend, die der Zementierung von Werten und Hegemonien sowie der Produktion und Zirkulation von Identitäten und Realitäten dienen (vgl. Burkart 2018, 12), ist der Aufstieg dieser Beziehungsform untrennbar mit ihrem gesellschaftlichen Kontext verwoben. Sie wäre undenkbar ohne den Übergang von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. Luhmann 1994, 55), ohne die Freisetzung aus den ökonomischen Abhängigkeiten der (Groß-)familie (vgl. Burkart 2018, 50), ohne demokratische Prinzipien der Freiheit und Gleichheit (vgl. Giddens 1993, 201-207), ohne die emotionale Matrix der romantischen Liebe und ohne einen kapitalistischen Markt für Aktivitäten wie Rendezvous, Tanzabende und Urlaube (vgl. Illouz 2007, 26). Diese kulturelle Zentralstellung der Ehe findet ihren Niederschlag nicht zuletzt in der Literatur: Kaum ein Happy End kommt in der damaligen Zeit ohne sie aus.

Doch so prädestiniert sich die Ehe auf den ersten Blick hinsichtlich der Absorption der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Bedürfnisse der bürgerlichen Moderne erweist, so sehr steht sie auch in der Kritik (vgl. Arni 2004). Je stärker sie zum hegemonialen Beziehungsmodell avanciert, desto mehr wird sie als Ort der Verletzung der persönlichen Immunität (etwa durch wirtschaftliche Ausbeutung, Vergewaltigung oder Syphilis) gedacht und desto mehr (periphere) Gegenentwürfe ruft sie auf den Plan, die sie unterlaufen und brüchig werden lassen (vgl. Saurer 2014, 123-137). Feministische oder sozialistische Forderungen nach ihrer Reform oder Abschaffung (vgl. Saurer 2014, 133-145), Forderungen nach Änderungen des Scheidungsrechts (vgl. Segalen 1990, 184), sich wandelnde Geschlechter- und Familienbilder (vgl. Segalen 1990, 260), außereheliche, polygame oder homosexuelle Bindungen (vgl. Herzog 2001, 6-44) sowie nicht zuletzt das verstärkte Interesse an Normabweichungen in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Eugenik, Sexologie und Psychoanalyse (vgl. Foucault 1986) zeugen hiervon ebenso wie Vorschläge alternativer Lebensformen wie das anarchistische Ideal der Freien Liebe (vgl. Nash 1995, 281-296). Gerade die Fiktion erweist sich als präferenzieller Ort der Infragestellung oder Ersetzung der Ehe – man denke an Ana Ozores Scheitern am Paradox der lebenslänglichen Leidenschaft in Claríns La Regenta oder an Albertines und Marcels Ausloten homoerotischer Begierden in Prousts A la recherche du temps perdu. All diese Beziehungen können als kritische Auseinandersetzung mit den an bestehenden bürgerlichen Machtstrukturen und die an sie gekoppelten Gesellschaftsauffassungen verstanden werden.

Die interdisziplinäre Tagung analysiert die diskursiven Infragestellungen der Ehe in kulturellen Artefakten (d.h. fiktionale wie faktuale Texte sowie bildliche, musikalische, theatrale Inszenierungen) von 1870 bis 1930 aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive als Indikatoren der Verhandlung der wertmäßigen Parameter des gesellschaftlichen Miteinanders in der bürgerlichen Moderne der Romania. Indem sie in den Blick nimmt, wann, wo, in welchen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexten, auf welche Weise, mit welchem Ziel und welchem Zweck kritisch auf die Ehe Bezug genommen wird oder Alternativen zu ihr konstruiert werden, und indem sie ein besonderes Augenmerk darauf legt, welche spezifischen Ästhetiken (Gattungen, Stile, Schreibweisen) an diese Positionierungen geknüpft sind, möchte sie nicht nur dazu beitragen, die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Debatten rundum die Ehe im gesellschaftlichen und literarischen Feld der damaligen Zeit zu verorten, sondern auch dazu anstoßen, die Konzeptualisierungen von Sozialität im Untersuchungszeitraum als komplexes, fluides, durchlässiges, für Unsicherheiten und Ambivalenzen offenes Phänomen zu denken. Dies mag gerade dahingehend nicht uninteressant erscheinen, als die Konstellationen der bürgerlichen Moderne in der heutigen Spätmoderne wiederzukehren scheint: Angesichts der Tatsache, dass die Ehe gegenwärtig nicht nur in neokonservativen Kreisen trotz oder gerade wegen der emanzipativen Bewegungen erneut einen breiten Konsens findet und diese diskursive Konjunktur eine Reihe herausfordernder Alternativen wie die eingetragene Partner*innenschaft für homosexuelle Paare, polyamouröse und sexpositive Beziehungsmodelle gebiert, scheint ein Blick auf deren historische Vorläufer und deren Genese besonders lohnend.

In den Fokus rücken dabei folgende thematischen Schwerpunkte:

• kritische Infragestellungen der Ehe als Institution und alltägliche Praxis vor dem Hintergrund soziokultureller Transformationen und Einflüsse (wie der Urbanisierung, Industrialisierung, Kapitalisierung, Europäisierung, Säkularisierung, Ro¬mantik, wissenschaftliche Diskurse über Gesellschaftsentwicklung und Sexualität)
• Beziehungsmodelle, welche die politischen, ökonomischen, sozialen, konfessionellen, ethnischen, bildungsbezogenen oder moralischen Schranken des Untersuchungszeitraums überschreiten und/oder Intimität neu konzeptualisieren (wie Freie Liebe, homosexuelle Beziehungen, Freund*innenschaft); Entwürfe intentionaler Ledigkeit
• (für den Untersuchungszeitraum) unkonventionelle Familienkonzepte (wie kinderlose oder Patchworkfamilien, adoptierte oder uneheliche Kinder)
• Akteur*innen und Figuren, welche die Ehe kritisieren oder Alternativen zu ihr anvisieren, sowie ihre politische und soziokulturelle Verortung
• Orte und Zeiten, welche die Transgression der monogamen, heterosexuellen, patriarchalen Matrix begünstigen (Tanzsäle, Bordelle, die Natur; die Nacht/ der Urlaub etc.)
• Medien, Erzählformen, Stile und Gattungen, auf die präferenziell zur Verhandlung partnerschaftlicher Alternativkonzepte rekurriert wird

Wir freuen uns über die Zusendung von Beitragsvorschlägen (ca. 300 Wörter) bis zum 15.05.2021 an Christina Wieder (christina.wieder@univie.ac.at). Unter der Bedingung, dass Präsenzveranstlatungen wieder möglich sein werden, soll die Tagung an der Universität Wien stattfinden.

Einreichfrist: 15.05.2021
Termin: 01.-03.12.2021
Ort: Universität Wien
Konzeption und Organisation: Teresa Hiergeist und Christina Wieder
Kontakt: teresa.hiergeist@univie.ac.at. / christina.wieder@univie.ac.at

Caroline Arni: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004.
Stephanie Bethmann: Liebe – Eine soziologische Kritik der Zweisamkeit, München: Beltz, 2013.
Günter Burkart: Soziologie der Paarbeziehung. Eine Einführung, Springer: VS, 2018.
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (Bd. 1). Der Wille zum Wissen, Frankfurt: Suhrkamp, 1986.
Anthony Giddens: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt: Fischer, 1993.
Dagmar Herzog: Sexuality in Europe. A Twentieth-Century History, Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2011.
Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, Frankfurt: Suhrkamp, 2007.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt: Suhrkamp, 1994.
Mary Nash: „La reforma sexual en el anarquismo español“, in: Bert Hofmann/Pere Joan i Tous/Manfred Tietz (Hrsg.): El anarquismo español y sus tradiciones culturales, Frankfurt: Vervuert, 1995, 281-296.
Edith Saurer: Liebe und Arbeit. Geschlechterverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2014.
Martine Segalen: Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Frankfurt: Campus, 1990.
Georg Simmel: „Die Gesellschaft zu zweien“, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Bd. 8), Frankfurt: Suhrkamp, 1993, 348-354.

Beitrag von: Christina Wieder

Redaktion: Robert Hesselbach