Stadt: Mannheim

Frist: 2015-01-15

Beginn: 2015-07-26

Ende: 2015-07-29

URL: http://www.romanistentag.de/index.php?id=923

Sektionsleitung: Prof. Dr. Roswitha Böhm, Dr. Susanne Ritschel (Technische Universität Dresden)

Seit dem Beginn der Industrialisierung gilt die Krise als ständige Begleiterin der ökonomisch-technologisch-gesellschaftlichen Modernisierung. Damit wird jener offene Übergangszustand einer Gesellschaft beschrieben, der der Traditionsorientierung entgegensteuert, Orientierungsunsicherheit provoziert und Unsicherheitskompetenz zur Lebensstrategie erklärt. Das Phänomen der wirtschaftlichen, politischen und damit einhergehenden sozialen Krise entwickelte sich nicht zuletzt innerhalb der letzten Dekade zum wiederbelebten Problembegriff romanischer Kulturräume. Bei der Bewertung dieser Krisenmomente sind der Beobachterstandpunkt und der Beobachterzeitpunkt wesentlich, wie Vargas Llosa verdeutlicht: „[L]os tiempos de tribulaciones económicas como los que atraviesa España son siempre fecundos para la literatura, tal y como ocurrió en América Latina a mediados del siglo pasado.“ So ist die ökonomisch-gesellschaftliche Krise für die kulturelle Produktion der Iberischen Halbinsel zugleich „argumento estrella“ und Emigrationsmotiv, das gesellschaftskritisches Potenzial abwandern lässt. Die hier entstehenden textuellen und bildlichen Erzeugnisse drücken den vorhandenen gesellschaftlichen Unmut häufig über das Element der Ironie aus. Ferner äußert sich in Portugal die Krise als „Tochter der Kritik“ (Koselleck 1959) über eine Resemantisierung der Nelkenrevolution sowie im Liedgut, wie die heimliche „Krisenhymne“ Deolindas Parva que sou (2011) zeigt. In Frankreich wiederum, wo die Prozesse der gesellschaftlichen Marginalisierung bereits seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Begriff der précarité zusammengefasst werden, findet das Unbehagen angesichts eines fremdbestimmten Arbeitslebens im Medium künstlerischer Formen vielfältigen Ausdruck.

Einen produktiven Ansatz, um Krisennarrativa der kulturellen Produktionen der Gegenwart zueinander in Beziehung zu setzen, bietet die transgenerische und intermediale Erzähltheorie (Nünning & Nünning 2002). Da hier die „Krisenerzählungen“ unabhängig vom Medium analysierbar werden, kann sowohl das triadische Grundschema aus Anfang, Mitte und Ende miteinander verglichen werden, als auch das Strukturmoment der Mitte, das die eigentliche Pointe aus Überraschendem und Unerwartetem (Meuter 2004) bereithält. Kulturelle Produktionen, wie literarische Texte, aber auch Fotografien, Comics oder Filme, „produce, shape, and organize collective physical and mental experiences“ (Greenblatt 1988). Sie vermögen demnach auch Krisen zu artikulieren. Dabei kann zwar nicht davon ausgegangen werden, dass gesellschaftliche Lebenswelten in Form einer mimetischen Umschreibung abgebildet werden. Ebenso wenig jedoch stellen textuelle wie bildliche Erzeugnisse und kollektive Erfahrungswirklichkeiten voneinander abgegrenzte Bereiche dar. Die soziale Funktion jener Darstellungsformen ist von großer Bedeutung, denn die Ästhetisierung lebensweltlicher Elemente unter dem Zuschuss des Imaginären macht aus Wirklichkeit Möglichkeit, weshalb aus imaginierten Möglichkeiten schließlich neue Wirklichkeiten hervorgehen können (Iser 1991). Durch eine solche Freilegung ihres inspirativen Potenzials können Krisenstrukturen mit dem Mittel der Umschreibung auch verändert werden. Diese Prozesshaftigkeit von der deskriptiven zur interventiven Ebene kultureller Artefakte zu fokussieren, ist eines der Anliegen dieser Sektion.

Die materiale Bedingtheit von kulturellen Artefakten in Krisenmomenten stellt einen weiteren Schwerpunkt der Sektion dar. Inwieweit beeinflusst die ökonomische und materiale Ressource die produzierende Tätigkeit, wenn Schreib- und sonstige Arbeitswerkzeuge sowie Datenträger Mangelware sind? „Por falta de papel“ wurde beispielsweise ein wesentlicher Teil kubanischer Literatur der frühen período especial entweder gar nicht, verzögert oder in Koeditionen im Ausland gedruckt. Im Rahmen der Beiträge können folglich auch die Auswirkungen jener textexternen Faktoren wie Prekarität oder Mangel an Ressourcen auf die textinterne Wiedergabe berücksichtigt werden.

Das Ziel der Sektion ist es schließlich, die unterschiedlichen Ausdrucksformen historischer und gegenwärtiger Krisenreaktionen innerhalb der Romania unter Beachtung ihres Mediums zu bestimmen und zueinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn der Begriff der Krise gerade im letzten Jahrzehnt an Virulenz gewonnen hat, gab es doch je nach romanischem Kulturkreis unterschiedliche Phasen der Diskursverdichtung. Im Sinne einer historischen Fundierung sind in dieser Sektion aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive somit nicht nur synchrone ‚Tiefenbohrungen‘, sondern auch diachron orientierte Beiträge willkommen. Folgende Fragestellungen können dabei die Einzelfallanalyse geeigneter kultureller Artefakte leiten:

- Inwieweit bieten Krisen einen Interventions-, Innovations- und Inspirationsraum?
- Über welche Mittel verfügt das künstlerische Feld, um Krisenstrukturen umzuschreiben?
- Welche Folgen kann Materialmangel für die narrative Modellierung der Inhalte von Büchern, Filmen oder anderen Medien haben?
- Welche Kongruenzen und Spezifika lassen sich im Text-Kontext-Verhältnis der sich in unterschiedlichen Medien artikulierenden Krisennarrativa der Romania feststellen?

Abstracts bitte bis zum 15. Januar 2015 an die Sektionsleiterinnen: roswitha.boehm@tu-dresden.de, susanne.ritschel@tu-dresden.de

Beitrag von: Roswitha Böhm

Redaktion: Reto Zöllner