Abschied von Friederike Hassauer

von Georg Kremnitz

Unsere Kollegin Friederike Hassauer, langjährige Ordinaria für Romanische Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Wien, ist am 2. Dezember 2021 in ihrer Geburtsstadt Würzburg nach kurzer Krankheit gestorben. Sie war eine Pionierin der romanistischen Medientheorie und Geschlechterforschung und ist nur wenige Tage nach ihrem 70. Geburtstag von uns gegangen.

Friederike Hassauer wurde am 29. November 1951 in Würzburg geboren, das Goldschmied- und Juweliergeschäft ihrer Eltern lag im Stadtzentrum, nur wenige Schritte von der zentralen Mainbrücke entfernt. Die Stadt Würzburg strahlt an vielen Stellen eine starke barocke, gegenreformatorische Macht aus, es bedurfte wohl einiger Anstrengung, sich mit emanzipatorischen Gedanken aus diesem Ehrfurcht heischenden Umfeld zu befreien. Nach dem Abitur 1971 studierte Friederike Hassauer Romanistik, Germanistik, Komparatistik, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte zunächst in ihrer Heimatstadt, später in Tübingen und an der Washington University in St. Louis in den USA, wo sie einen Master an der Washington University erwarb. Dieser Aufenthalt hinterließ tiefe wissenschaftliche und menschliche Spuren, wie immer wieder durch ihre Texte und Äußerungen hindurchklingt. Sie war danach Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes, absolvierte Studienaufenthalte in Paris, Madrid, Salamanca, Siena und Perugia und promovierte 1980 mit einer Arbeit über die Fabel in der französischen Aufklärung an der Universität Bochum (als Buch: Die Philosophie der Fabeltiere. Von der theoretischen zur praktischen Vernunft. Untersuchungen zu Funktions- und Strukturwandel in der französischen Aufklärung. München: Fink, 1986). Die Arbeit wurde mit dem Dissertationspreis der Universität Bochum ausgezeichnet. 1988 folgte die Habilitation in Siegen: sie behandelte die mittelalterlichen Jakobswege auf neue Weise (als Buch: Santiago. Schrift – Körper – Raum – Reise. Eine medienhistorische Rekonstruktion. München: Fink, 1993). Noch in der Vorbereitungsphase wurde sie jung 1983 auf eine ehrenvolle Gastprofessur nach Berkeley berufen.

Diese Reihe von Erfolgen ließ sich nicht ohne persönlichen Verzicht und schmerzliche Auseinandersetzungen erzielen. Friederike Hassauer hat immer auf den großen Anteil hingewiesen, den ihr lebenslanger Gefährte und Ehemann Peter Roos daran hatte, dass sie ihre Ziele erreichte. Ihre Monographien sind alle ihm gewidmet. Mit Peter Roos zusammen verfasste sie mehrere Titel zur Frage der Geschlechter, vor allem VerRückte Rede. Gibt es eine weibliche Ästhetik? Berlin: Medusa, 1980 (als Herausgeber); Félicien Rops. Der weibliche Körper, der männliche Blick. Zürich: Haffmans, 1984 und, wieder als Herausgeber, Die Frauen mit Flügeln, die Männer mit Blei? Notizen zu weiblicher Ästhetik, Alltag und männlichem Befinden. Hannover: Wirtschaftsverlag, 1983, später Siegen: Affholderbach & Strothmann, 1986. Diese Arbeiten (die Aufzählung ist nicht vollständig) erlebten teilweise mehrere Auflagen. Es entstanden auch Filme über den belgischen Maler und Graphiker Félicien Rops und den Weg nach Santiago. Diese Titel zeigen bereits, dass das Zentrum ihrer Interessen und Anliegen in den Geschlechterverhältnissen lag. Außerdem schrieb sie für mehrere Zeitungen und Zeitschriften wie den Spiegel, die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und später auch den Standard in Wien. Dank ihrer publizistischen Tätigkeit erhielt ihr Schreiben eine angenehme Lesbarkeit, wie sie noch immer unter Hochschullehrern die Ausnahme ist.

Daneben bekamen die persönliche Begegnung mit Niklas Luhmann und die intellektuelle mit Michel Foucault auf lange Sicht eine besondere Bedeutung für sie, wie sich aus ihrem Werk unschwer erkennen lässt. Natürlich hinterlässt das Kaudinische Joch der Habilitation als formendes – aber auch verformendes – Element bei jedem/jeder seine Spuren. Darauf und auf die besonderen Umstände der weiblichen Habilitation hat Friederike Hassauer in ihrer Antrittsvorlesung hingewiesen, die auch im Druck erschien (Homo. Academica. Geschlechterkontrakte, Institution und die Verteilung des Wissens. Wien: Passagen-Verlag, 1994). Fast gleichzeitig wandte sie sich mit einem Diskussionsbeitrag (Textverluste. Eine Streitschrift. München: Fink, 1992) gegen die Tendenzen zur Rephilologisierung der Literaturwissenschaft und forderte eine stärkere Berücksichtigung der medientheoretischen Aspekte.

Diese beiden letzten Arbeiten gehören schon in die Wiener Zeit. Nach einer Lehrstuhlvertretung in Siegen (1989-1991) erhielt sie 1990 einen Ruf an die Universität Wien, wo sie am 1. September 1991 ihre Tätigkeit aufnahm und bis zur Emeritierung am 30. September 2020 blieb. Daneben nahm sie Gastprofessuren in Mainz, Madrid und Innsbruck wahr.

Vor allem in den ersten Wiener Jahren gelang es ihr, durch viele Veranstaltungen die Diskussion zu befeuern. So konnte sie etwa Judith Butler einladen, mit dem Spanischen Kulturinstitut eine Reihe der damals jüngeren Autoren präsentieren – etwa die kürzlich verstorbene Almudena Grandes –, alles vor zahlreichem Publikum und mit erheblichem öffentlichem Echo. Zugleich trug sie zur Erneuerung der literaturwissenschaftlichen Lehre am eigenen Institut bei, durch die Einführung neuer Fragestellungen und die Präzisierung der schon bekannten. Vor allem trug sie durch ihre medienwissenschaftlichen Interessen zu einer Ausweitung des Literaturbegriffs und seines Untersuchungsbereichs bei. Jede ihrer Lehrveranstaltungen war bis ins Kleinste vorbereitet, sie setzte ständiges Mitdenken und Mitarbeiten allerdings auch bei den Studierenden voraus. Sie bot Präzision, verlangte sie aber auch. Diejenigen, die sich ihr für eine Qualifikationsschrift anvertrauten, betreute sie mit unglaublicher Intensität. Auf diese Weise führte sie manche zukünftige Wissenschaftlerin, manchen Wissenschaftler an die Disziplin heran, damit sie sich auf diesem Feld bewähren könnten.

Sie selbst benannte als Schwerpunkte ihrer Forschung und ihres Interesses neben der Gender-Forschung in der Romania, verkörpert besonders in der Querelle des femmes, Medientheorie und Mediengeschichte, darunter das Problem von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter und der frühen Neuzeit, die Frage der Sprachverwendung, vor allem im Mittelalter, und nicht zuletzt Literaturtheorie und Literaturgeschichte ganz allgemein. Mit all diesen Gebieten war sie aufs engste vertraut, wenn sie auch nicht zu allem publiziert hat. Sie hat zur Erweiterung des Literaturbegriffes in der Romanistik viel beigetragen.

Schon bald bezog sie auch wissenschaftspolitisch Position. Ein unbedingter Antinazismus verband sich mit dem Anspruch auf Geschlechtergleichheit, sie war zugleich Anhängerin einer deutlichen Hierarchie an den Hochschulen – die Gruppenuniversität des späten zwanzigsten Jahrhunderts war ihre Sache nicht. Damit erwarb sie sich verständlicherweise nicht nur Freunde. Allerdings betrachtete sie die jüngeren Entwicklungen, weg von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden und hin zu einer Dienstleistungsuniversität ohne Seele, die oft von Managern geleitet wird, die mitunter zur Bedeutung des Ringens um Wissen und Erkenntnis nur ein gebrochenes Verhältnis haben, mit noch größerem Misstrauen. Ihre Stellungnahmen führten oft zu Kontroversen, die auch über die Medien geführt wurden.

Indes wurde ihre Stimme vielfach gehört, vor allem international. Sie war 1997/98 Mitglied der Strukturreformkommission der Universität Konstanz, dort später auch Mitglied des Hochschulrates, 2002/03 Mitglied der Strukturreformkommission des Landes Schleswig-Holstein, seit 2000 Mitglied der Ständigen Kommission für Forschung der (damaligen) Österreichischen Rektorenkonferenz und schließlich seit 2007 Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Liste ließe sich erweitern. Diese Tätigkeiten – jenseits der „Ordentlichen Professur“, vor allem in Nischenzeiten und während verfügbarer Momente – haben viel Kraft und Energie gekostet, denn auch da konnte sie nur mit der gewohnten Genauigkeit mitwirken, anders wäre ihr ein Engagement nicht möglich gewesen; sie haben ihr indes auch eine große Reputation im Fach, in der gesamten Republik der Gelehrsamkeit und in der weiteren Gesellschaft gebracht. Es fällt ein wenig auf, dass die eigene Fakultät nur relativ wenig von ihrer Expertise Gebrauch gemacht hat; auf diese Weise hat sie Zeit für Anderes gewonnen. Immerhin brachten ihr diese Zusatzaufgaben einige Auszeichnungen ein. Zwei Festschriften wurden ihr gewidmet: der 2003 von Wolfgang Aichinger u. a. herausgegebene Band The Querelle des femmes in the Romania (Wien: Turia + Kant), und das 2011 von Judith Hoffmann und Angelika Pumberger edierte Buch Geschlecht – Ordnung – Wissen (Wien: Praesens). Sie hielt 2004 der Universität Wien die Treue, als sie einen Ruf nach Freiburg nicht annahm.

Trotz all dieser Verpflichtungen blieben Lehre und Forschung die wichtigsten Aspekte ihres Schaffens. Allerdings nahm notwendig die Geschwindigkeit der Publikationen ab. Immerhin hatte sie nun die Möglichkeit, größere Projekte in die Wege zu leiten, als wichtigstes die Dokumentation und Analyse der Querelle des femmes in der Romania. Sie steht im Zentrum der selbständigen Publikationen der Wiener Jahre, aber auch vieler Aufsätze, die in dieser Zeit geschrieben wurden. Alles reiht sich um das gleichnamige Projekt, das seit den neunziger Jahren Gestalt annahm. Daraus entstanden mehrere Publikationen, so die von Marlen Bidwell-Steiner als Erstherausgeberin betreute Schrift Streitpunkt Geschlecht. Historische Stationen der Querelle des Femmes in der Romania (Wien: Turia + Kant, 2001), später der von Gisela Engel maßgeblich betreute Band Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des femmes (Königstein/Taunus: Helmer, 2004), die in den großen, von Friederike Hassauer herausgegebenen Sammelband Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der Querelle des femmes zwischen Mittelalter und Gegenwart (Göttingen: Wallstein, 2008) mündet. Er bildet einen vorläufigen Höhepunkt der Beschäftigung mit diesem Thema und stellt einen Meilenstein der Forschung dar. Natürlich verdichten sich in diesen Bänden die Erkenntnisse von zahlreichen Aufsätzen, die hier keiner besonderen Erwähnung bedürfen. Parallel dazu entsteht eine kompakte Einführung in die Literaturwissenschaft unter dem Titel Was ist Literatur? Einführung in die Romanistik (Hispanistik/Galloromanistik) und in die Allgemeine Literaturwissenschaft, redigiert von Anke Gladischefski (Wien: WUV, 2001), die unter Beweis stellt, dass neben der Forschung auch die Lehre zu ihrem Recht kommen sollte. Sie hat Generationen von Studenten den Zugang zum Studium erleichtert.

Ihre letzten Lebensjahre waren von wiederholten gesundheitlichen Problemen überschattet. Hatten ihre Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde nach der schönen Feier zu ihrem sechzigsten Geburtstag gehofft, sie hätte nun noch ein paar geruhsame Jahre an der Universität vor sich, bevor sie als von Alltagspflichten befreite Emerita gewichtige Beiträge zu den von ihr bevorzugten Themen schreiben könnte, so fiel die Emeritierung 2020 in das erste Jahr der Pandemie und musste sie unter erschwerten Umständen die damit verbundene Organisation leisten. Und dann blieb ihr – trotz aller Pläne – nur noch ein Jahr.

Alle, die sie näher gekannt haben, werden ihren wachen Geist und ihre Intelligenz vermissen, ihr forscherisches Interesse, die gewichtigen Fragen, die sie stellte, und ihr menschliches Engagement wird ihnen fehlen. Ihr fordernder Einsatz, ihre wissenschaftliche Hingabe und ihr umfassender Blick über das gesamte Feld hinterlassen eine tiefe Lücke.

Georg Kremnitz, Oberwaltersdorf, 17. Januar 2022

Beitrag von: Jörg Türschmann

Redaktion: Robert Hesselbach