Heute ist allgemein bekannt, dass es so etwas wie die Mafia gibt und eine Regel namens „omertà“, die ihren Mitgliedern angeblich Verschwiegenheit auferlegt. Das war Anfang der 1960er Jahre noch völlig anders, als Leonardo Sciascia seine später so genannten „Mafia-Kriminalromane“ Il giorno de la civetta (1961) und A ciascuno il suo (1966) veröffentlichte. Damals war die Mafia weder soziologisch erforscht noch juristisch durchleuchtet, die Leugnung ihrer Existenz auf Sizilien noch Ehrensache, und der Kriminalroman war eine unter Literaten gerne geschmähte Gattung. Folglich waren die genannten Romane literarisch und kulturell in mehrfacher Hinsicht bahnbrechend: Das Wirken der Mafia wurde nicht nur realistisch beschrieben, sondern auch die Verschränkung der sizilianischen Alltagskultur mit deren Codes in die Handlungsführung integriert. Der Kriminalroman, seit Jahrzehnten im Dienst einer idealisierten Idee von Gerechtigkeit, verwandelte sich bei Sciascia zum Werkzeug der Dekonstruktion des Vernunftglaubens. In Sciascias sizilianischen Mafia-Krimis scheint die Ausnahme nicht das Verbrechen zu sein, das in einen friedlichen Alltag einbricht, sondern vielmehr der Ermittler, der die Selbstverständlichkeit des Verbrechens zur Sprache bringt. Wie aber spricht man in einer Welt, in der Verschwiegenheit als Tugend gilt? Dieser speziellen Herausforderung stellten sich Sciascia und Elio Petri, der Regisseur der Verfilmungen, auf je eigene Weise.

Begleitvortrag zur 4. Italienischen Filmreihe des Instituts für Romanistik der Universität Rostock. Im Anschluss wird wird der Film „A ciascuno il suo” (1971) von Elio Petri gezeigt.

Beitrag von: Jose Manuel Blanco

Redaktion: Robert Hesselbach