Stadt: München

Frist: 2022-09-15

Beginn: 2023-06-15

Ende: 2023-06-17

Zwischen Allegorese und Agency. Zur Narratologie mittelalterlicher Tierfiguren

Tagung in München (15.–17. Juni 2023)

Diu erde keiner slahte treit,
daz gar sî âne bezeichenheit.
nehein geschepfede ist sô frî,
sin bezeichne anderz, dan si sî.

(Freidank, Bescheidenheit 12,9–12.)

In einer vom christlichen Glauben durchwirkten Naturlehre verweist jedes Geschöpf auf etwas anderes. Dies belegen nicht nur didaktisch orientierte Texte wie Freidanks Bescheidenheit, sondern auch all jene Texte, die Versatzstücke spiritualer Tierdeutung tradieren. Hervorzuheben sind hierbei etwa die in vielen Sprachen und Sprachstufen breit überlieferten Physiologus-Sammlungen, in denen Tiere vermittelst ihrer teils ethologisch präzise beschriebenen Verhaltensweisen, teils nur angenommenen Eigenschaften als Zeichen für die Wahrheit christlicher Glaubenssätze vorgestellt werden. Vor dieser Folie leuchtet unmittelbar ein, dass auch Tierfiguren in mittelalterlichen Erzählungen als allegorische Figuren oder Symbole fungieren können. Auf diese Weise machen sie Bedeutungsdimensionen der Erzählungen erreichbar, die allein im Blick auf die Handlungsebene verschlossen blieben. Entsprechend sind Tierfiguren schon in vielen hochgradig reflektierten mediävistischen Studien auf ihre allegorischen Bedeutungspotenziale, ihre motivgeschichtlichen Hintergründe und ihre symbolischen Funktionen hin untersucht worden. Dabei ist zuletzt auch deutlich geworden, dass Tierfiguren, die explizit vor der Folie christlicher Naturkunde konzipiert worden sind, als Reflexionsfiguren betrachtet werden können, die verschiedene Bedeutungsdimensionen und Wissensbereiche in jeweils spezifischer Form vermitteln und so neues Wissen schaffen.

Dieser Ansatz, der die Tierfiguren unter je eigenen Perspektiven in ihrer Zeichenhaftigkeit und ihrem Verweischarakter erfasst, kann aber auch um eine Blickrichtung ergänzt werden, die gerade das ‚Tierliche‘, die Animalität der Figuren und ihres Handelns in den Fokus rückt. Denn auch mittelalterliche Tierfiguren verdichten und vermitteln nicht nur außerliterarische Wissensformationen, sondern verhandeln narrativ auch Mensch-Tier-Beziehungen und treten intradiegetisch vor allem immer auch in einer jeweils spezifischen – menschlichen und tierlichen – Plastizität in Erscheinung. Da in den Handlungen der erzählten Tiere bald etwas Menschliches im tierlichen Gewand aufscheinen mag, bald aber vermeintlich menschliches Handeln als in tierlicher Naturförmigkeit begründet inszeniert wird, unterliegen die allegorischen Wissensdimensionen den Dynamiken der Inszenierung der erzählten Welt und werden so Gegenstand einer spezifisch narrativen Episteme, die auch vom Handeln der Tierfiguren beeinflusst wird. Aus dieser Perspektive ist kaum abzustreiten, dass die Tierfiguren mittelalterlicher Erzähltexte nicht nur auf etwas außerhalb ihrer selbst verweisen können, sondern ihnen gerade in ihrer teils dezidierten Tierlichkeit auch Handlungsmacht – Agency – auf Ebene der Erzählung und auch hinsichtlich der verhandelten Wissensinhalte beizumessen sein kann.

Besonders deutlich wird das in jenen tierzentrierten Erzähltexten, in denen Tierfiguren als sprechende, teils anthropomorph anmutende Wesen auftreten und soziale, religiöse oder politische Ordnungen bilden: Tierfabeln und tierepische Erzählungen. Einerseits scheinen ja gerade diese sprechenden und sich in Gemeinschaften organisierenden Tierfiguren in hohem Maße vor menschlichem Denken und Handeln transparent zu werden und auf das eigentlich Menschliche ihrer Figurenkonzeption reduzibel zu sein. Zu bemerken ist hier andererseits aber oft, dass etwas dezidiert Tierliches im Handeln der Figuren aufscheint, das ihre Handlungsspielräume plausibel macht, gegenüber menschlich zentrierten Figuren erweitert oder auch, ganz gegenteilig, einschränkt, in jedem Fall aber zu bestimmen scheint. So wird etwa die Natürlichkeit und Unabänderlichkeit von Macht- und Gewaltverhältnissen (z. B. zwischen Fressfeinden) in Szene gesetzt oder aber es wird akzentuiert, dass es geradezu unmenschlicher – tierlicher – Anstrengungen bedarf, um bestimmte Volten einer Reflexion des Sozialen, Religiösen oder Poltischen nachzuvollziehen. Den Tierfiguren kommt hier in ihrer Tierlichkeit Handlungsmacht zu und man kann zumindest in manche Dimensionen dieser narrativen Episteme nur vordringen, wenn man bereit ist, mit den Tieren als Akteuren zu denken und sie nicht nur allegoretisch aufzulösen.

Aber dabei bleibt es nicht, denn auch jenseits der spezifischen Erzählwelten und Reflexionsdimensionen tierzentrierter Texte treten im mittelalterlichen Erzählen Tierfiguren auf, die weit mehr Raum in den erzählten Welten einnehmen als nötig wäre, um sie als bloßes Zeichen für etwas anderes oder als Hülle eines verborgenen Sinns zu etablieren. Deutlich wird das besonders, wenn in den Texten menschliche und tierliche Figuren in Interaktionen unterschiedlichster Art treten. Zu berücksichtigen wären hier etwa Tierfiguren, die enge Beziehungen zu menschlichen Figuren eingehen und Einfluss nehmen auf das Selbstverhältnis ‚ihres‘ Menschen wie auch auf den Handlungsgang, etwa der Löwe als tierlicher Begleiter Iweins im höfischen Roman oder Hieronymus‘ in der Heiligenlegende, aber auch das intrikate Verhältnis von Ritter und Pferd in höfischer Literatur (z.B. Alexander und Bucephalus; Enite und ihre Pferde), sowie Rituale höfischer Selbstvergewisserung, die sich aus dem Umgang des Menschen mit Tieren ergeben, wie die Jagd oder Zucht und Dressur. Daneben gibt es Tierfiguren, die derart übercodiert sind, dass eine entschlüsselnde Erklärung ihrer Bedeutungsdimensionen schlicht nicht mehr möglich ist und offensichtlich auch nicht alleiniges Ziel der Figurenkonzeption war (die bunten Pferde im Eneasroman, im Erec oder im Wigalois; das Zauberhündchen Petitcreiu im Tristan; der bracke im Titurel): Wie sind hier die allegoretisch kaum mehr auflösbaren Verweissysteme und das Handeln der Figuren als Tiere in der erzählten Welt zu vermitteln?

Vor diesen Befunden und Überlegungen scheinen uns unter anderem Fragestellungen sinnvoll, die sich folgenden Themenbereichen widmen:

  • Systematisch: In welchem Verhältnis stehen Verfahren der Allegorese und Beobachtungen zur Agency von Tierfiguren zueinander, wenn man versucht, eine Narratologie mittelalterlicher Tierfiguren zu skizzieren? Wie kann man mittelalterliche Tierfiguren zwischen ihrer allegorischen Bedeutsamkeit und der ihnen inhärenten animalischen Natur erfassen?
  • Literaturgeschichtlich: Müssen mittelalterliche Tierfiguren anders beschrieben werden als moderne? Welche Rolle können Ansätze und Ergebnisse der Cultural and Literary Animal Studies bei der Analyse vormoderner Tierfiguren spielen?
  • Gattungsvergleichend: Wie sind die Kategorien der Allegorese und Agency in Abhängigkeit davon zu konturieren, ob man sie auf Erzähltexte oder auf andere Textgattungen wie lyrische Texte oder Wissensliteratur anwendet? Inwiefern unterscheiden sich Tiere in literarischen Texten im engeren Sinne von Tieren in pragmatischen Texten?

Weitere Themenvorschläge und andere Perspektiven aller literaturwissenschaftlichen Fachrichtungen sowie interdisziplinäre oder komparatistische Beiträge sind herzlich willkommen.

Wir bitten um Abstracts von 300 bis 500 Wörtern auf Deutsch oder Englisch bis zum 15.09.2022.

Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an

Eine Übernahme von Reise- und Übernachtungskosten kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht garantiert werden, wir bemühen uns aber um eine Förderung.
Im Anschluss an die Tagung ist die Publikation der Beiträge in einem gemeinsamen Band geplant.

Beitrag von: Jan Glück

Redaktion: Robert Hesselbach