Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

NULL in Morphologie und Syntax: Präsenz oder Nicht-Präsenz?

Sektionsleitung:
Peter Herbeck (Bergische Universität Wuppertal & Universität Wien),
Natascha Pomino (Bergische Universität Wuppertal)

Wir freuen uns auf Vortragsvorschläge zum Thema “NULL in Morphologie und Syntax” bis zum 31. Dezember 2022. Abstracts sollten maximal 4000 Zeichen (inkl. Leerzeichen und Bibliographie) umfassen und in anonymisierter Form als DOC- und PDF-Datei (Namen und Kontaktdaten bitte nur in der E-Mail) an herbeck@uni-wuppertal.de und pomino@uni-wuppertal.de gesendet werden.

Sektionsbeschreibung:

Nullelemente werden in verschiedenen Theorien sowohl in der Morphologie als auch in der Syntax als Analysebausteine verwendet, wobei seit jeher diskutiert wird, ob die strukturelle Präsenz eines phonologisch leeren Elements angenommen werden muss (= Null), oder ob sich die entsprechenden Phänomene durch die Nicht-Präsenz von Elementen auszeichnet (= Nichts). Im Bereich der generativen Syntax wird z.B. seit Chomsky (1981/1982) angenommen, dass die syntaktische Subjektposition in verschiedenen Konfigurationen projiziert wird, auch wenn sie keine phonologische Entsprechung hat (pro in (1a)). Weitere leere Kategorien sind das obligatorisch leere PRO in Kontrollinfinitiven (cf. (1b)) und Spuren, die als phonetisch leere Merkmalsbündel nach Bewegungsoperationen verstanden werden (cf. (1c)). Beispiele aus dem Bereich der Morphologie sind für das Spanische unter (2) aufgeführt: (2a) zeigt den stark umstrittenen Fall eines Nullmorphems für TAM-[Präs.Ind.], während (2b-c) Fälle von Nullallomorphen darstellen.

(1) a. pro como una manzana.
b. Phileas Fogg cree [PRO llegar tarde a su cita].
c. Pedro parece [ t tener razon].
(2) a. com-e-Ø[TAM]-mos
b. lunes-Ø[PL]
c. razon-Ø[N→V]-a-r

Die Annahme solcher Nullelemente wird allerdings kontrovers diskutiert, und es haben sich drei grobe Theorieansätze herausgebildet: (i) Theorien, die Nullelemente „uneingeschränkt“ erlauben (z.B. Item-and-Arrangement), (ii) Theorien, die Nullelemente nur unter eingeschränkten Bedingungen erlauben (cf. Mel’čuk 2002 für mögliche Beschränkungen), und (iii) Theorien, die keine Nullelemente dulden (z.B. Natürliche Morphologie; Dressler et al. 1987). Die Verwendung von NULL ist also stark theorieabhängig (cf. Dahl & Fábregas 2018), und es mangelt nicht an alternativen Analysen zu den Beispielen in (1)-(2).

Die Nullelemente in (1) scheinen zunächst hinreichend motiviert zu sein, da sie auf Eigenschaften des (morpho)syntaktischen Kontextes (z.B. Finitheit) und der syntaktischen Analyseebene (basisgeneriert vs. deriviert) zurückzuführen sind. Allerdings besteht auch hier kein Konsens darüber, inwieweit diese leeren Kategorien präsent sind und auf welcher Analyseebene sie legitimiert werden (vgl. Borer 1989; Alexiadou & Anagnostopoulou 1998; Herbeck 2015). In verschiedenen Ansätzen zu Nullsubjektsprachen wird z.B. angenommen, dass pro aus dem Lexikon in die Syntax projiziert wird, wo es formal lizenziert und der referentielle Gehalt identifiziert werden muss (Rizzi 1986). Während beides für leere Subjekte in romanischen Sprachen wie Italienisch, Katalanisch und Spanisch durch starke, pronominale Kongruenzmorphologie geschieht, werden Nullobjekte zwar lizenziert, aber nicht durch Kongruenz identifiziert, sodass zusätzliche Annahmen vonnöten sind. Empirische Evidenz für ein leeres Subjektpronomen liefern auf den ersten Blick interpretative Unterschiede zwischen pro und expliziten Pronomina (Bindung, Belebtheit, Ko-referenz; vgl. Montalbetti 1984). NULL kann jedoch auch in diesen Fällen als PF-Phänomen (Holmberg 2005) oder als ein Phänomen in der postsyntaktischen morphologischen Komponente (Neeleman & Szendrői 2007) analysiert werden. Ferner besteht die Möglichkeit, dass die dem leeren Subjektpronomen zugesprochene Funktion durch andere Elemente innerhalb der Konfiguration erfüllt werden (Kongruenzmorphologie, Nulltopik, etc.), NULL also gar nicht präsent ist.

Ähnlich verhält es sich mit den morphologischen Beispielen. So kann man die Pluralform von Sp. lunes wie in (2b) mit einem Nullallomorph analysieren, man könnte aber auch dafür argumentieren, dass lunes ein Pluralsuffix erhält, das dann anschließend aus (morpho)phonologischen Gründen wieder getilgt wird (Dahl & Fábregas 2018), cf. (3a). Oder man postuliert, dass bestimmte Elemente nicht nur einen Slot, sondern größere Teilstrukturen realisieren (cf. (3b); spanning, kumulative Exponenz etc.). Oder man nimmt an, dass das morpho-syntaktische Merkmal [Plural] vor der Einsetzung des morpho-phonologischen Materials gelöscht wird (cf. (3c); impoverishment). Mit anderen Worten, NULL kann die Folge einer PF-Operation der Löschung phonetischen Materials, einer postsyntaktischen, morphologischen Operation der Löschung von Merkmalen (Bonet 1991) oder der fehlenden Projektion von Merkmalen (cf. Dahl & Fábregas 2018; Trommer 2012) sein. Es mangelt also nicht an alternativen Analysen, die ohne NULL auskommen; vielmehr muss man objektive Argumente aufführen, die zeigen, welche dieser Alternativen die bessere ist.

(3) a. lunes-s[pl] + anschließende Anpassungs-/Tilgungsregel
b. lunes <→ [[[√ ] WM] pl]
c. [[√ ] pl] → [[√ ]]

Die Frage nach der (empirischen) Motivation gestaltet sich häufig als komplex, da durch das Fehlen phonetischen Materials keine direkte, sondern nur indirekte Evidenz für bzw. gegen Nullelemente möglich ist. Nach welchen Prinzipien entscheidet man, wann NULL als Beschreibungselement (nicht) legitim ist (cf. u.a. Nida 1948, Mel’čuk 2002)? Diesbezüglich erwähnt Pöll (in Pomino & Pöll 2022) die Notwendigkeit, dass NULL immer dann vermieden werden sollte, wenn ein ungleiches Verhalten von einem potentiellen Nullelement und dem entsprechenden overten Gegenstück besteht. Er beobachtet, dass das Suffix derivierter Verben Einfluss auf die Suffix-Selektion bei einer anschließenden Nominalisierung haben kann: Verben auf sp. -ec-e-r favorisieren Nominalisierungen mit -miento (z.B. favorecimiento), während Verben auf -ific-a-r Nominalisierungen mit -ción bevorzugen (z.B. planificación). Etwaige mit einem Nullallomorph derivierte Verben zeigen diese Affinität hingegen nicht, z.B. razon-Ø-a-r > razonamiento und limit-Ø-a-r > limitación. Wenn die Nullelemente keinen Einfluss auf die Suffix-Selektion haben, dann sind sie ggf. gar nicht vorhanden. Oder handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Nullallomorphe, eines zu ec und ein anderes zu ific?

Die Präsenz von NULL ist also nicht nur stark theorieabhängig, es fehlt oftmals auch empirische Evidenz für bzw. gegen die Annahme von NULL. Ziel dieser Sektion ist es, Linguist*innen unterschiedlicher theoretischer Ansätze und Methodiken zusammenzubringen, die für bzw. gegen Nullelemente argumentieren. Sie möchte die empirische und theoretische Notwendigkeit der Annahme von Nullelementen in Syntax und Morphologie anhand der romanischen Sprachen und Varietäten beleuchten und neue Erkenntnisse bezüglich eines kontrovers diskutierten Konstrukts in verschiedenen Grammatiktheorien erzielen.

Der Fokus der Beiträge kann unter anderem auf einen der folgenden Fragenkomplexe liegen:

  • Welche Evidenz finden wir für bzw. gegen Nullelemente in der linguistischen Analyse?
  • Welche Einblicke können uns romanische Sprachen und Varietäten in die Theorie von Nullelementen bieten?
  • Welche Einblicke ermöglicht eine sprachvergleichende und/oder eine sprachhistorische Perspektive von Nullelementen?
  • Wie wird NULL in Morphologie und/oder Syntax von L1 und L2 SprecherInnen erworben?
  • Handelt es sich (a) in der Morphologie und Syntax oder (b) in der Derivation und Flexion um ähnliche oder unterschiedliche Nullelemente?
  • Welche alternative Analysemöglichkeiten zu leeren Kategorien gibt es? Wie wird NULL in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen behandelt?
  • Wie viele Arten von Nullelementen gibt es in Morphologie und/oder Syntax, und worin unterscheiden sie sich?

Empirische Studien zu NULL aus romanistischer Perspektive, die Daten aus weniger erforschten Varietäten diskutieren, sowie Studien zum Spracherwerb und korpus-basierte Ansätze sind besonders willkommen.

Bibliographie (Auswahl)
Alexiadou, A. & Anagnostopoulou, E. (1998). Parameterizing AGR: word order, V-movement, and EPP-checking. Natural Language and Linguistic Theory 16, 491-539.
Barbosa, P. (1995). Null subjects (Dissertationsschrift), Massachusetts Institute of Technology.
Biberauer, T., A. Holmberg, I. Roberts & M. Sheehan (Eds.) (2010). Parametric variation: null subjects in minimalist theory. Cambridge: Cambridge University Press.
Bonet, E. (1991). Morphology after Syntax: Pronominal Clitics in Romance (Ph.D. dissertation), MIT.
Borer, H. (1989). Anaphoric AGR. In O. Jaeggli & K. Safir (eds.), The null subject parameter (pp. 69-109). Dordrecht: Springer.
Chomsky, N. (1981). Lectures on Government and Binding – the Pisa lectures. Dordrecht: Foris Publications.
Chomsky, N. (1982). Some concepts and consequences of the theory of Government and Binding. Cambridge: MIT Press.
Dahl, E. & A. Fábregas (2018). Zero Morphemes. Oxford Research Encyclopedia of Linguistics. https://doi.org/10.1093/acrefore/9780199384655.013.592
Dressler, W. U., Mayerthaler, W., Panagl, O., & Wurzel, W. U. (1987). Leitmotifs in natural morphology. Amsterdam: John Benjamins.
Embick, D. (2000). Features, syntax, and categories in the Latin perfect. Linguistic Inquiry 31 (2): 185-230.
Fernández Soriano, O. (1989). Strong pronouns in null subject languages and the Avoid Pronoun Principle. MIT Working Papers in Linguistics 11: 228-240.
Herbeck, P. (2015). Unifying Pro-Drop and Control – The Derivation of Spanish (Null) Subjects (Doktorarbeit), Universität Salzburg.
Holmberg, A. (2005). Is There a Little pro? Evidence from Finnish. Linguistic Inquiry 36(4), 533-564.
Holmberg, A. (2010). Null subject parameters. In T. Biberauer et al. (eds.): 88-124.
Jaeggli, O. & K. J. Safir (Eds.) (1989). The Null Subject Parameter. Dordrecht: Kluwer.
Kato, M. A. & E. V. Negrão (2000). Brazilian Portuguese and the Null Subject Parameter. Frankfurt a. M.: Vervuert.
Landau, I. (2013). Control in generative grammar: a research companion. Cambridge: Cambridge University Press.
Mel’čuk, I. (2002). Towards a formal concept ‘zero linguistic sign.’ In S. Bendjaballah, W. U. Dressler, O. E. Pfeiffer, & M. D. Voeikova (Eds.), Morphology 2000 (pp. 241–258). Amsterdam: John Benjamins.
Montalbetti, M. (1984). After Binding (Dissertationsschrift), MIT.
Neeleman, A. & Szendrői, K. (2007). Radical pro-drop and the morphology of pronouns. Linguistic Inquiry 38 (4): 671-714.
Nida, E. (1948). The identification of morphemes. Language 24, 414–441.
Pomino, N. & Pöll, B. (2022). Morphologie des Spanischen. In R. Klabunde, W. Mihatsch & S. Dipper (Eds.), Linguistik im Sprachvergleich. Germanistik – Romanistik – Anglistik. Kapitel 15, 317-336.
Rigau, G. (1988). Strong pronouns. Linguistic Inquiry 19 (3), 503-511.
Rizzi, L. (1982). Issues in Italian syntax. Dordrecht: Foris Publications.
Rizzi, L. (1986). Null objects in Italian and the theory of pro. Linguistic Inquiry 17 (3), 501-557.

Beitrag von: Peter Herbeck

Redaktion: Robert Hesselbach