Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

Sektion 1: Sprachliche Variation in den romanischen Kleinsprachen zwischen realen und virtuellen Räumen

Sektionsleitung und Kontakt:
Ruth Videsott (Freie Universität Bozen), E-Mail: ruth.videsott@unibz.it
Gabriele Zanello (Università degli Studi di Udine), E-Mail: gabriele.zanello@uniud.it

Variation betrifft unterschiedliche Dimensionen von Sprache, aus soziolinguistischer Sicht insbesondere den Sprachgebrauch (cf. z.B. Koch 2006; Auer et al. 2010; Stehl 2013). Die soziolinguistische Beschreibung von sprachlicher Variation als Gegenpart zur normativen stellt gerade bei Minderheitensprachen immer wieder im Spannungsfeld zwischen Norm, wissenschaftlichem Kontext und sprachlicher Realität in der Sprachgemeinschaft eine Herausforderung dar.

Der schnelle Übergang in die virtuelle Welt – beschleunigt durch die epidemiologische Situation der letzten zwei Jahre – hat auch das Verhältnis zwischen Norm und sprachlicher Variation geprägt: Minderheitensprachen haben Zugänge zu neuen Kanälen und sozialen Medien erhalten und haben ihr Ausbreitungsspektrum zumindest virtuell erweitert. Dazu sind empirische Daten ein dringendes Desiderat.

Ein solcher Wandel ermöglicht und erleichtert einerseits einen Übergang von der L-Ebene in die H-Ebene in vielen Bereichen für Sprachen, die bisher in spezifischen Domänen kaum präsent waren (cf. z.B. Ferguson 1959/1972; Dal Negro/Iannàccaro 2007). Dies wirkt sich wiederum auf den Ausbauprozess (Kloss 1976; 1978) einer kleinen Sprache aus, wobei dadurch auch Fragen der Standardisierung sowie des Abstands aufgegriffen und neu definiert werden können. Grundsätzlich sind Minderheitensprachen in erster Linie gesprochene Sprachen, deren Verschriftung und Kodifizierung auf dem synchronen System beruhen – im Gegensatz zu den großen Sprachen, die stärker auf die diachrone Achse ausgerichtet sind (Videsott 2011). Gerade während der Normierung solcher Kleinsprachen können die vielen orthografischen Umstrukturierungen, die sie in diesem Prozess erfahren, zudem die Kluft zwischen gesprochener und geschriebener Sprache vergrößern (cf. u.a. Kattenbusch 1994; Zanello 2021).

Auf der anderen Seite erfordert die Verwendung der Sprache in unterschiedlichen (virtuellen und realen) Räumen und neuen Medien auch neue Beschreibungsmodelle der Sprache selbst, wenn man eben die diatopische, diaphasische, diastratische und diamesische Variation mitberücksichtigt (cf. Coseriu 1971; Berruto 1993). So kann man davon ausgehen, dass beispielsweise eines der markantesten Merkmale von Minderheitensprachen (und von Sprache generell) in digitalen Netzwerken die relativ starke Nähe zur gesprochenen Sprache ist (Nähesprache in Koch/Oesterreicher 1985; 2001) (cf. u.a. Fiorentino 2005; Frank-Job 2010; Cathomas 2015; Videsott/Fiorentini 2020). Zudem zeigen gerade die neuen Kommunikationskanäle, dass auch die kommunikativen Handlungsmuster sich durch den digitalen Sprachgebrauch im steten Wandel befinden. Durch die gerade eher nähesprachliche Verwendung einer Minderheitensprache in virtuellen Räumen könnte auch das Problem des Selektionsprozesses (Haugen 1966; 1969) und der Akzeptanz institutionell selegierter, von den Sprachbenutzer:innen unter Umständen als “künstlich” empfundener Normen neu verdeutlicht werden. Somit wird womöglich der Implementierungserfolg einer Standardvarietät geschwächt, weil sich Schreiber:innen und Sprecher:innen im virtuellen Raum ihre eigenen an die kleinräumig gesprochenen Varietäten angelehnten Normen schaffen.

Sprachliche Variation ausgehend von ihrem Gebrauch spielt somit eine relevante Rolle auch in Normierungsfragen und wird vermehrt auch in der Schriftlichkeit sichtbar. Es geht demnach um die „authentische Sprache” (Pusch/Raible 2002: 1), sprich die Sprache der Sprecher:innen in verschiedenen Verwendungsbereichen.
Der schnelle Übergang von Präsenz- zur Onlinekommunikation hat neben den linguistischen und soziolinguistischen Faktoren auch Fragen zur Sprachvermittlung und Sprachdidaktik aufgeworfen. Normierungs- und Standardisierungsprozesse verstärken in diesem Kontext die Debatte rund um die Beziehung zwischen Norm und sprachlicher Variation, gerade wenn diese Überlegungen die Sprachdidaktik und die dafür vorgesehenen Instrumente betreffen (Henning 2009; Dell’Aquila/Iannàccaro 2004).
Die Normierung einer Minderheitensprache setzt in jedem Fall voraus, dass ein Sprachmodell etabliert wird, welches zum Standard für die Sprachgemeinschaft wird, d.h. im Hinblick auf die theoretischen Grundüberlegungen der Sprachplanung (cf. Haugen 1969), den Ausbau und die Kodifizierung von Sprache, die die Sprachgemeinschaft als korrekt akzeptiert, sowie auf die Verwendung der Sprache seitens der Sprecher:innen. In diesem Sinne haben gerade Sprach- und Kulturinstitutionen und die Schule eine fundamentale Vermittlungsrolle.

Ausgehend von diesen Überlegungen verfolgt diese Sektion das Ziel, linguistischen, soziolinguistischen sowie sprachdidaktischen Themenschwerpunkten von Minderheitensprachen in der Romania im Hinblick auf das dichotomische Verhältnis zwischen Norm und sprachlicher Variation nachzugehen.

Hierfür wird um die Einreichung von Beiträgen mit unter anderem, aber nicht ausschließlich, folgenden Schwerpunkten gebeten:

Mögliche linguistische Fragestellungen und Schwerpunkte:
- Morphosyntaktische und syntaktische Variationsprozesse
- Gesprochene vs. geschriebene Sprache in neuen und traditionellen Medien
- Normierung und Standardisierung von Minderheitensprachen
- Probleme der orthographischen Kodifizierung von Minderheitensprachen
- Prozesse des Ausbaus innerhalb der Sprachentwicklung von Minderheitensprachen

Mögliche soziolinguistische Fragestellungen und Schwerpunkte:
- Digitale Sprache(n) in sozialen Netzwerken
- Sprachpolitische Erfahrungen und Herausforderungen
- Sprachkontakt in der Schriftlichkeit und Mündlichkeit
- Spracheinstellungen, Sprachbewusstsein und Sprachrezeption in mehrsprachigen Kontexten

Mögliche sprachdidaktische Fragestellungen und Schwerpunkte:
- Erst- und Zweitspracherwerb in Kontexten von Minderheitensprachen
- Erwerb von mehreren Sprachen
- Normative vs. sprachvariationelle Diskurse in der Sprachdidaktik
- Didaktische Herausforderungen in Migrationskontexten
- Sprachkompetenzen der Lehrkräfte bei der Vermittlung von Minderheitensprachen
- Fragen zur Sprachproduktion und -performanz von Schülern und Schülerinnen

Wir freuen uns auf Abstracts unter Angabe des Titels sowie von Namen und Kontaktdaten des/der Vortragenden bis zum 31. Dezember 2022 an: ruth.videsott@unibz.it und gabriele.zanello@uniud.it.
Ihr Abstract sollte maximal 4.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und bibliographische Angaben) umfassen. Vortragssprachen sind alle romanischen Sprachen und das Deutsche.

Bei Fragen und Zweifeln stehen wir gerne zur Verfügung.

Bibliographie (Auswahl):

Auer, Peter et al. (2010): Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation, Berlin/Boston, de Gruyter.
Bedijs, Kristina/Maaß, Christiane (2017): Manual of Romance Languages in the Media, Berlin/Boston, de Gruyter.
Berruto, Gaetano (1993): Le varietà del repertorio, in: Sobrero, A. A. (a cura di), Introduzione all’italiano contemporaneo, Roma/Bari, Laterza, 2 voll., 3-36.
Cathomas, Claudia (2015): Von „I dont Know!“ zu „Kei problem chara!!“ – Eine korpuslinguistische Untersuchung zu rätoromanischen SMS unter besonderer Berücksichtigung verschiedener Formen und Funktionen von Code-Switching, Inauguraldissertation der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern.
Chambers, Jack K. (1995): Sociolinguistic theory. Linguistic variation and its social significance, Oxford, Blackwell.
Coseriu, Eugenio (1971): Teoria del linguaggio e linguistica generale, Bari, Laterza.
Dell’Aquila, Vittorio/Iannàccaro, Gabriele (2004): La pianificazione linguistica. Lingue, società e istituzioni, Roma, Carocci.
Ferguson, Charles (1959/1972): Diglossia, in: Gigliolo. P. P. (ed.), Language and social context. Selected readings, Harmondsworth, 232–251.
Fiorentino, Giuliana (2005): Dialetti in rete, in: Rivista Italiana di Dialettologia 29, 111-149.
Fishman, Joshua (1988): Language spread and language policy for endangered languages, in: Lowenberg, P.H. (ed.) Language spread and language policy: Issues, implications, and case studies, [Georgetown University Roundtable on Languages and Linguistics 1987], Washington, D.C., 1–15.
Frank-Job, Barbara (2010): Sprachwandel und Medienwandel, in: Mehler, A./Sutter, T. (Hrsg.), Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen — von frühen Medienkulturen zum Web 2.0, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 27-46.
Frau, Giovanni (2006): Normalizzazione, pianificazione e tutela istituzionalizzata della lingua: friulano/Sprachplanung, Sprachlenkung und institutionalisierte Sprachpfelge: Friaulisch, in: Ernst, G. et al. (Hrsg.), Romanische Sprachgeschichte/Histoire linguistique de la Romania, vol. 2, Berlin/New York, de Gruyter, 1445-1449.
Haugen, Einar (1966): Language Conflict and Language Planning: The Case of Modern Norwegian, Cambridge, Harvard University Press.
Haugen, Einar (1969): Language planning, theory and practice, in: Graur, A. (ed.), Actes du Xe Congrès International des Linguistes, Bucarest 1967, Bucarest, Editions de L’Académie de la République Socialiste de Roumanie, 701–711.
Iannàccaro, Gabriele (2006): Normalizzazione, pianificazione e tutela istituzionalizzata della lingua: ladino dolomitico/Sprachplanung, Sprachlenkung und institutionalisierte Sprachpfelge: Dolomitenladinisch, in: Ernst, G. et al. (Hrsg.), Romanische Sprachgeschichte/Histoire linguistique de la Romania, vol. 2, Berlin/New York, de Gruyter, 1450-1454.
Kloss, Heinz (1976): Abstandsprachen und Ausbausprachen, in: Göschel, J./Nail, N./Van der Elst, G. (Hrsg.), Zur Theorie des Dialekts. Aufsätze aus 100 Jahren Forschung. Mit biographischen Angaben zu den Autoren, Wiesbaden, Steiner, 301–322.
Kloss, Heinz (21978): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800, Mannheim, Institut für Deutsche Sprache.
Koch, Peter (1988): Norm und Sprache, in: Albrecht, J./Lüdtke, J./Thun, H. (Hrsg.), Energeia und Ergon. Sprachliche Variation, Sprachgeschichte, Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coseriu, 3 voll., 327-354.
Koch, Peter (1999): ‘Gesprochen/geschrieben’ – eine eigene Varietätendimension?, in: Greiner, N. et al. (Hrsg.), Texte und Kontext in Sprachen und Kulturen. Festschrift für Jörn Albrecht, Trier, Greiner Verlag, 141-168.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15–43.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (2001): Gesprochene Sprache und Geschriebene Sprache. Langage parlé et langage écrit, in: Holtus, G. et al., Lexikon der Romanistischen Linguistik, 8 voll., Tübingen, 1988-2005, 584-627.
Lebsanft, Franz/Tacke, Felix (eds.) (2020): Manual of Standardization in the Romance Languages, Berlin/Boston, de Gruyter.
Marra, Antonietta/Dal Negro, Silvia (a cura di) (2020): Lingue minoritarie tra localismi e globalizzazione, Milano, Officinaventuno (studi AItLA).
Stehl, Thomas (2013): Sprachkontakt, Sprachvariation, Migration: Ziele, Inhalte und Methodenfragen, in: Stehl, Th. et al. (Hrsg.): Sprachkontakt, Sprachvariation, Migration: Methodenfragen und Prozessanalysen, Frankfurt am Main, Peter Lang, 1-9.

Beitrag von: Ruth Videsott

Redaktion: Robert Hesselbach