Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

Sektionsleitung: PD Dr. habil. Karin Peters & Bastian Piejko (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

„Dans le portrait se retrace, se retire, se rejoue très sensiblement sous nos yeux la possibilité pour nous d’être présents.“ (Jean-Luc Nancy)

Nachdem zuletzt wahlweise das verhüllte oder das digitalisierte Gesicht millionenfach und weltweit zum Alltag und Politikum wurde, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte des Fazialen (McNeill 2004; Weigel 2013, 2017; Belting 2013) aufgeschlagen wurde. Seit über zwanzig Jahren reißen auch in der Literaturwissenschaft (Zemanek 2010; Vitale 2011; Lichau 2014), Theaterwissenschaft (Baccanti et al. 2021) und Filmwissenschaft (Aumont 1992; Blümlinger / Sierek 2002; Barck / Löffler 2015) die Debatten über das Gesicht nicht ab. Dennoch wollen wir in Anbetracht der zeitgeschichtlichen Relevanz das Gesicht literatur- und kulturwissenschaftlich erneut unter dem Lemma von „Präsenz und Virtualität“ betrachten. Denn wie schon Macho mit Verweis auf die Medialisierung unserer Gegenwart betont, „annoncieren“ Gesichter vordergründig Nähe, ja die „Tele-Gesellschaft fetischisiert die Nähe in Gestalt des Gesichts“ (Macho 1999, S. 121), obwohl dieses selbst blind und stumm bleibt. Intimität kann in Darstellungen des Gesichts nur als Spur unseres Präsenzbegehrens simuliert werden (Nancy 2014, S. 11). Dabei spielen Intimität und Distanz, Präsenz und Virtualität auch in grundlegendere Aspekte der Affektdarstellung oder -übertragung hinein (Deleuze 1983).
Methodologisch gehen wir deshalb bei unseren Überlegungen von der Analyse aus, die Barthes 1970 in “L’Empire des signes” angestellt hat: Er beschreibt die Weiße des Gesichts eines japanischen Schauspielers als ein Zeichen, das in zwei Richtungen zugleich bedeutet: „l’immobilité (que nous appellerions « moralement » : impassibilité) et la fragilité (que nous appellerions de la même manière mais sans plus de succès : émotivité)“ (Barthes 1970/2002a, S. 419). Barthes spricht dabei von einer enigmatischen Dichte des maskenhaften Gesichts, auf dem eine ‚Mimen-Schrift‘ gezeichnet wird, die für ihn als Europäer fremd wirkt. Das Gesicht als Zeichen affiziert einerseits körperlich, ja könne sogar Ekel („écœurement“; ebd.) auslösen (es besitzt also ein “punctum”; Barthes 1980/2002b, S. 809), und wird andererseits mit Begriffen aus der Affektlehre besetzt: “impassibilité” und “émotivité”. Barthes widerspricht jedoch der Vereinfachung, ein Gesicht sei expressiv. Vielmehr besteht er darauf, dass das Gesicht nur als Aufkündigung von Bedeutung gelesen werden kann – gerade im Hinblick auf den Affekt. Die von ihm gewählten Begriffe lassen sich deshalb in das Begriffspaar der Virtualität und Präsenz übersetzen. Ein in die körperliche Abwesenheit entrückter, maskierter Affekt im gelassenen Gesicht wäre demnach quasi nur virtuell zuhanden. Dahingegen ließe sich ein im Gesicht inszeniertes Gefühl, das sich als authentisches Berührtwerden des ‚zerbrechlichen‘ Subjekts geriert, dort als körperlich präsent begreifen. Es ist die körperliche Geste eines Affekts, obwohl dieser in seiner kognitiv-emotionalen Dimension dem Körper zugleich äußerlich bleiben muss. Somit wird die Semiotik des „Gesichtshandelns“ (Hiergeist / Puccio 2016, S. 19) anschließbar an Debatten der Affekttheorie und -poetik sowie die Frage, wie Subjekte sich in historisch verschiedenen emotionalen, kulturellen und medialen Regimen auf der Leinwand des Gesichts ‚zur Schau stellen‘.
Um die Konstituenten dieser Relation zu umreißen, wollen wir zum einen den Fokus auf die Affektpoetik des Gesichts in unterschiedlichen Medien legen und zum anderen eine diachrone Linie verfolgen, die von der Rhetorik des Affekts in der Frühen Neuzeit (Reißer 1997; Cockcroft 2003; Paster et al. 2004) über die Kodifizierung des Ausdrucks in der bürgerlichen Kultur (von Matt 1983; Kappelhoff 2001) bis hin zur Defragmentierung in Moderne (Hellberg 2021) und Postmoderne (Macho 1996b) reicht – auch mit Blick auf die wandelbare Erinnerungsqualität, die Warburg zufolge visuellen Pathosformeln des physiognomischen Ausdrucks anhaftet (Warburg 1929). Hinsichtlich der frühen Phase fazialer Verkörperungen des Affekts wurde bereits auf die Rhetorisierung des tragischen Gesichts in der Renaissance (Arnould 1995; Christiansen 2011) und deren Vorspiele in der mittelalterlichen Passio (Blowers 2020; Hazard 2021) bzw. auf die Rolle der gendermarkierten spanischen Mystik hingewiesen, in Verbindung mit literarischen Herrscherbildern (Zemanek 2010, S. 145-188) und Abgrenzung von der einsetzenden Taxonomie des 17. Jahrhunderts mit ihrem „Baukastensystem der Gesichtsteile“ (Kirchner 1991, S. 36) etwa bei Le Brun (“Traité des passions”, 1688). Ohne eine unilineare Geschichtserzählung dieser Entwicklung weiterspinnen zu wollen, möchten wir ähnliche „Schaltstellen“ (von Matt 1983, S. 9) in den Blick nehmen. Zudem wird die westlich konstruierte Opposition eines orientalen Schauspiels der Geste gegenüber dem okzidentalen Schauspiel der Mimesis (Barthes 2002a, S. 421) zu hinterfragen sein, hat doch schon Fanon (1952) die rassistische Normativität des weißen Gesichts betont. Um die Ergebnisse von Hiergeist und Puccio (2016) in Anschluss an den Frankoromanistentag 2014 hinsichtlich der Gesamtromania zu erweitern, wünschen wir uns insofern Beiträge, die unterschiedliche Epochen, Sprachen und Kulturen berücksichtigen.
Dass im Hinblick auf die Virtualität des Affekts der Neuzeit besondere Aufmerksamkeit gelten muss, ist u.a. der Tatsache geschuldet, dass bereits die klassische Moderne das Prinzip der „non-figuration“ (Nancy 2014, S. 76) im Porträt verficht, dieses dann aber postmodern gesteigert wird zu einem „surcharge de l’énigme“ (ebd.) der Fragmentierung und Auflösung. So zeigt von Matt in seiner Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts die „Möglichkeiten und Grenzen der Symbolisierung“ (von Matt 1983, S. 128) menschlicher Gesichtserfahrung im Medium der Sprache auf, indem er die Beschreibungskrise bei Musil und Kafka als literaturgeschichtlichen Umschlagpunkt identifiziert. Insbesondere in der Lyrik folgt moderne Gesichtsdarstellung dem „Konzept der Dezentrierung“ (Zemanek 2010, S. 293). Postkoloniale Literaturen wenden dies ihrerseits in Sozialkritik und politischen Kommentar um, etwa wenn Ben Jelloun in “L’Enfant de sable” (1985) mit einer Nahaufnahme des Gesichts seiner gendermaskierten Protagonistin einsteigt, das von Falten eines verstellten Lebens paradox gezeichnet und von Ticks körperlich punktiert wird. Auch aktuell reißt das Interesse nicht ab, wie der preisgekrönte Roman “Barba ensopada de sangue” (2012) des Brasilianers Galera beweist, in dem die Pathologie, keine Erinnerung an Gesichter zu haben (Prosopagnosie), ins Zentrum von Handlung und Ästhetik gestellt wird. Diese Ausschnitte lassen hoffen, dass die Auseinandersetzung mit dem Gesicht als Schauplatz des Affekts zwischen Präsenz und Virtualität viele Anschlussmöglichkeiten bietet.

Mögliche Themen:

- Affektrhetorik des Gesichts in der frühneuzeitlichen Literatur und Malerei
- Herrscherbilder vs. Gesichter der Marginalisierten
- Klassische Taxonomie zwischen Mimesis und Kontrollverlust
- Literarische Codierung und Dekodierung des ‚bürgerlichen Gesichts‘
- Fragmentierte Subjektivität in der (Post-)Moderne
- Dekolonialisierung des normativen ‚weißen Gesichts‘
- Gendermaskerade, male gaze und politischer Affekt im Kino
- Pathologisierung und Biomacht in der zeitgenössischen fazialen Ästhetik

Ihr Abstract sollte maximal 4.000 Zeichen umfassen (einschließlich Leerzeichen und bibliographischer Angaben). Bitte senden Sie Ihren Vortragsvorschlag bis zum 31. Dezember 2022 an: peterska@uni-mainz.de

Auswahlbibliographie

Arnould, Jean-Claude: „Les visages de la douleur dans les récits tragiques du XVIe siècle“, in: Bernard Yon (Hg.): La Peinture des Passions de la Renaissance à l’Âge classique, Saint-Etienne: Publ. de l’Univ. de Saint-Etienne 1995, S. 49-59.
Aumont, Jacques: Du visage au cinéma, Paris: Éditions de l’Étoile 1992.
Baccanti, Anna / Link, Franziska / Spangenberg, Johanna / Stichnoth, Antonia (Hgg.): Un/Masking: Reflections on a Transformative Process, Berlin: Neofelis 2021.
Barck, Joanna / Löffler, Petra (Hgg.): Gesichter des Films, Bielefeld: transcript 2015.
Barthes, Roland: „L’Empire des signes“, in: ders.: Oeuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. III, Paris: Seuil 2002a, S. 347-446.
—„La Chambre claire“, in: ders.: Oeuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. V, Paris: Seuil 2002b, S. 785-892.
Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck 2019.
Blowers, Paul M.: Visions and Faces of the Tragic: The Mimesis of Tragedy and the Folly of Salvation in Early Christian Literature, Oxford: Oxford University Press 2020.
Blümlinger, Christa / Sierek, Karl (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien: Sonderzahl 2002.
Christiansen, Keith (Hg.): Gesichter der Renaissance: Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, München: Hirmer 2011.
Cockcroft, Robert: Rhetorical Affect in Early Modern Writing. Renaissance Passions Reconsidered, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan 2003.
Darwin, Charles: The Expression of the Emotions in Man and Animals, hg. v. Joe Cain und Sharon Messenger, London: Penguin Classics 2009.
Deleuze, Gilles: Cinéma 1: L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983.
Ekman, Paul: Emotion in the Human Face: Guide-Lines for Research and an Integration of Findings, Oxford: Pergamon Press 1972.
—The Face of Man: Expressions of Universal Emotions in a New Guinea Village, New York: Garland STPM Press 1980.
Fanon, Frantz: Peau noire, masques blancs, Paris: Seuil 1952.
Hazard, Alice: The Face and Faciality in Medieval French Literature, 1170-1390, Cambridge: Boydell & Brewer 2021.
Hellberg, Sherilyn Nicolette: „A Chaos of Faces: Expressions of Despair in Tove Ditlevsen’s Ansigterne“, in: Scandinavian Studies 93:1 (2021), S. 96-114.
Hiergeist, Teresa / Puccio, Nelson (Hgg.): Envisager la face: Facetten des Gesichts in der Frankoromania, Berlin: LIT 2016.
Kappelhoff, Hermann: „Bühne der Empfindungen – Leinwand der Emotionen. Das bürgerliche Gesicht“, in: Helga Gläser / Bernhard Groß / Hermann Kappelhoff (Hgg.): Blick-Macht-Gesicht, Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 9-41.
Kirchner, Thomas: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz: von Zabern 1991.
Lichau, Karsten: Menschengesichte: Max Picards literarische Physiognomik, Berlin: De Gruyter 2014.
Macho, Thomas: „Vision und Visage. Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Medien“, in: Wolfgang Müller-Funk / Hans Ulrich Reck (Hgg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien / New York: Springer 1996a, S. 87-108.
—„GesichtsVerluste. Faciale Bilderfluten und postindustrieller Animismus“, in: Ästhetik und Kommunikation 94/95 (1996b) (= Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft), S. 25-28.
—„Das prominente Gesicht. Vom face to face zum Interface“, in: Manfred Faßler (Hg.): Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität, Wahrnehmung und Ethik der Kommunikation, München: Fink 1999, S. 121-135.
— „Mit lachendem Gesicht: en face le pire jusqu’à ce qu’il fasse rire“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 0 (2009), S. 19-36.
McNeill, Daniel: Das Gesicht. Eine Kulturgeschichte, übers. v. Michael Müller, Essen: Magnus Verlag 2004.
Nancy, Jean-Luc: Le Regard du portrait, Paris: Galilée 2000.
—L’Autre portrait, Paris: Galilée 2014.
Paster, Gail Kern / Rowe, Katherine / Floyd-Wilson, Mary (Hgg.): Reading the Early Modern Passions: Essays in the Cultural History of Emotion, Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press 2004.
Reißer, Ulrich: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluß charakterologischer Lehren auf die Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, München: Scaneg 1997.
Sumner, Tyne: „Zoom Face: Self-Surveillance, Performance and Display“, in: Journal of Intercultural Studies (2022), S. 1-15.
———„False Face Must Hide What the False Heart Doth Know: The Literary Face in the Age of AI“, in: Association for Computing Machinery (2021), S. 253-255.
———Lyric Eye: The Poetics of Twentieth-Century Surveillance, London/New York: Routledge 2021.
Vitale, Claudia: Das literarische Gesicht im Werk Heinrich von Kleists und Franz Kafkas, Florenz: Firenze University Press 2011.
von Matt, Peter: …fertig ist das Angesicht: zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München: Hanser 1983.
Warburg, Aby: „Mnemosyne Einleitung“, in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 629-639.
Weigel, Sigrid (Hg.): Das Gesicht: Bilder, Medien, Formate, Göttingen: Wallstein 2017.
— / Kutschbach, Tine (Hgg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen, München: Fink 2013.
Witzgall, Susanne / Kesting, Marietta (Hgg.): Politics of Emotion / Power of Affect, Berlin: diaphanes 2022.
Zemanek, Evi: Das Gesicht im Gedicht: Studien zum poetischen Porträt, Köln: Böhlau 2010.

Beitrag von: Karin Peters

Redaktion: Robert Hesselbach