Frist: 2023-09-30

CFP: Vers und Prosa. Differenz – Interaktion – Interferenz, Literaturwissenschaftliches Symposion, 2.9.-7.9.2024, Villa Vigoni

Leitung: Judith Kasper (Frankfurt a.M.), Cornelia Zumbusch (Hamburg)
Kurator:innen: Michael Gamper (FU Berlin), John Hamilton (Harvard), Melanie Möller (FU Berlin), Sandro Zanetti (Zürich)

Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wird vom 2.9.-7.9.2024 in der Villa Vigoni ein internationales literaturwissenschaftliches Symposion stattfinden. Es folgt organisatorisch dem Muster der Germanistischen Symposien der DFG, wie sie seit den 1970er Jahren durchgeführt wurden. Die Beiträge werden vorab verfasst, den Teilnehmenden zugesandt und auf der Konferenz diskutiert (precirculated paper).

Vers und Prosa als gebundene und ungebundene Rede sind Grundprinzipien sprachlicher Gestaltung, die in ihrer Komplementarität bislang noch erstaunlich selten behandelt worden sind. Weit intensiver wurde das Gegensatzpaar Poesie und Prosa bedacht, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert als Beschreibungsmatrix dominiert. Vor allem über den Gebrauch von Figuren und Tropen abgegrenzt, gewinnt Prosa als nüchterner, sachlicher, an den Verstand gerichteter Sprachgebrauch eine kultur- und geschichtsphilosophische Bestimmung. Während Poesie etwa bei Herder zum menschheitsgeschichtlich früheren, ›ursprünglichen‹ Ausdruck stilisiert wird, gilt Prosa spätestens seit Hegel als Äußerungsform einer Moderne, die sich durch Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit und ihren Hang zum Unpoetischen auszeichnet. Parallel dazu gewinnt die Prosa in der romantischen Theoriebildung als eine von formalen Vorgaben befreite, integrale Poesie ein neues Profil. Benjamin und mit ihm Agamben haben hier angeschlossen und die Prosa zum schöpferischen Grund der Poesie erklärt (Agamben (1985) 2003). An Rehabilitierungsversuchen einer emphatischen Prosa als Emanzipationsform oder als Matrix der Poesie (Fues 1990, Czucka 1992, Kreienbrock 2020), an Studien zur Geschichte der Prosa (Arndt/Deupmann/Korten 2012, Eßlinger/Volkening/Zumbusch 2016; Mülder- Bach/Kersten/Zimmermann 2019, Efimova/Gamper 2021) oder auch an Versuchen, zu einer Theorie der Prosa zu gelangen (Simon 2013), hat es in der neueren Literaturwissenschaft seither nicht gefehlt.

Von diesen reichhaltigen, auf ein differenziertes Verständnis der Prosa gerichteten Forschungsanstrengungen scheint indessen der Vers als definitorisches Gegenüber der Prosa verdeckt worden zu sein. Trotz wegweisender Beiträge, vor allem aus der Linguistik, fehlt, so beklagt Simon Jarvis (2008), bis heute eine ›Verswissenschaft‹. Die wichtigsten Aussagen über den Vers stammen von modernen Dichtern, wenn sie, inzwischen befreit von Regelpoetiken, Rechenschaft darüber ablegen, sich solchen Formzwängen zu unterwerfen. Sie reichen von dichterischer Inspiration und lustvollem Spiel mit Konventionen bis hin – zum Beispiel bei Wordsworth – der Erkundung eines anderen Bewusstseinszustands und Formulierung eines philosophischen Denkens im und durch den Vers. Was die Rede in Versen ausmacht, ist mit der Urteilskategorie ›Poesie‹ deshalb nur unzureichend erfasst. In den romanischen Literatursystemen, in denen Poetik und Rhetorik eine engere Bindung behalten als dies in der deutschsprachigen Literatur der Fall ist, bleibt der Vers ein privilegierter Gegenstand philologischer Betrachtung. Allerdings verbleibt diese oft im konventionellen Rahmen der Feststellung metrischer Regeln, die darum – zumal aus moderner Sicht – als unwesentliches, eher mechanisches Addendum erscheinen. Jarvis (2008) stellt fest, dass jenseits der diversen Vers-Schulen kein zufriedenstellender Konsens darüber besteht, was Metrum, was Rhythmus, was Akzent ist und wie Skandierung funktioniert. Dies ist der Fall, weil der Vers eben nicht auf eine reine Form-Frage reduziert werden kann, sondern tiefgreifende semantische, ästhetische, philosophische, psychoanalytische, neurologische und politische Implikationen hat. Die Beschäftigung mit dem Vers geht deshalb längst über bloße Formbestimmungen hinaus (Milner/Regnault 1987, Meschonnic 1982, 1995 und 1998, Bettini 2012). In der neueren Forschung ist der Rhythmus schließlich auch als intermediale, kulturelle und epistemische Organisationsform der Sprache, der Musik und des Tanzes, aber auch der Arbeit und der Natur in den Blick gerückt (Naumann 2005, Baxmann 2009, Wellmann 2010, Kasper 2017).

Die weitgehend getrennten Forschungsimpulse einerseits zur Prosa, andererseits zum Vers führt das literaturwissenschaftliche Symposion zusammen, um sie zur Theorie und Geschichte einer produktiven Beziehung zu verbinden. Erst in der Zusammenschau, zumal in der Kreuzung unterschiedlicher Literaturen und Systeme, kann das ästhetische Potential von Vers und Prosa kritisch befragt werden. Ziel ist es, mit der Gegenüberstellung von Vers und Prosa hinter die geschichtsphilosophischen Spekulationen, die sich an Poesie und Prosa ausgebildet haben, zurückzugehen und formale Aspekte stärker in den Vordergrund treten zu lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Untersuchung von Mischungs- und Kontrastverhältnissen, durch die eine vermeintlich stabile Grenze zwischen Vers und Prosa immer wieder neu zur Verhandlung steht. Welchen historischen Verschiebungen unterliegt die Metrik als überliefertes Formwissen, wenn die Versdichtung unter dem Druck moderner Prosa außer Kurs gerät, aber auch neue, womöglich ironische Konjunkturen erlebt? Inwieweit verfügen auch Prosatexte über dem Vers vorbehaltene klangliche und rhythmische Gliederungsmuster, die sich in Anlehnung oder Abgrenzung vom Vers herausbilden – gibt es eine Prosodie der Prosa?

Vers und Prosa sind auf einer Beschreibungsebene angesiedelt, die der geläufigen Gattungstrias Epik, Dramatik und Lyrik vorausliegt. Dadurch geraten eine Vielfalt literarischer Formen und ihrer Theoretisierung in den Blick. Gerade weil die Unterscheidung von Vers und Prosa nicht in Gattungstypologien aufgeht, bietet sie einen hervorragenden Rahmen, um deren historische Genese zu reflektieren. Welche Mischgattungen bilden sich heraus, wie verorten sie sich formal, aber auch programmatisch zwischen Vers und Prosa, unter welchen Umständen werden sie eingeführt oder wieder abgesetzt? Diese Fragen lassen sich an Epos, Roman und Prosimetrik, an freirhythmischer Dichtung und dem Prosagedicht, aber auch an kleinen Formen wie der Spruchdichtung oder dem Aphorismus sowie Kleinstformen wie etwa der Liste diskutieren. In diesem großen Feld der Gattungsgenesen und Gattungsmischungen sollen unterschiedliche Akzente gesetzt werden.

Sprachübergreifende Untersuchungen können die Wahrnehmung der Grenze zwischen Vers und Prosa in unterschiedlichen metrischen Systemen in den Blick nehmen; dort also, wo Versformen aus unterschiedlichen Sprachen und Sprachräumen übernommen und an veränderte prosodische Bedingungen angepasst werden. Das Verhältnis von Vers und Prosa lässt sich im Hinblick auf seine materialen, (inter-)medialen, kulturellen und epistemischen Bedingungen diskutieren. Dies betrifft etwa klangliche Dimensionen, die meist im Selbstvergleich der Dichtung mit der Musik adressiert werden, darunter Vorstellungen von Lyrizität oder Gesanglichkeit oder medial übergreifende Beschreibungskategorien wie Ton oder Takt. Neben der akustischen wäre auch die physiomotorische Dimension von Metrum und Rhythmus zu untersuchen, wie sie etwa in der Unterscheidung von Prosa und Vers als Gang und Tanz aufscheint. Für das Verhältnis zwischen phonetischen und graphischen Realisationen, die sich zwischen dem leisen und lauten Lesen, dem Sprechen und Hören aufspannen, wäre neben einer Geschichte der Lese- und Vortragsgewohnheiten das Verhältnis von Dramentext und theatraler Performanz aufschlussreich, das bis zur zeitgenössischen oral poetry und dem poetry slam reicht. Eine wichtige Perspektive ergibt sich schließlich aus den kulturellen Kontextualisierungen und wechselnden Gebrauchsmöglichkeiten von Vers- und Prosatexten.

Die Differenzen, Interferenzen und Interaktionen zwischen Vers und Prosa sollen in vier Sektionen untersucht werden. Sektion 1 befasst sich mit Übersetzungen und Adaptionen, um die historische (In-)Stabilität der Unterscheidung zwischen Vers und Prosa zu beobachten. In Sektion 2 sollen rhythmische Gestaltungen und Theorien des Rhythmus als produktive Zone der Indifferenz zwischen Prosa und Vers diskutiert werden. Probleme der Textproduktion und der Materialität werden in Sektion 3 adressiert. Sektion 4 fragt nach den kulturellen, politischen und epistemischen Dimensionen der Vers- und Prosa-Unterscheidung.

Sektion 1: Übersetzungen und Adaptionen (Melanie Möller)

Die Frage nach dem Verhältnis von Vers und Prosa stellt sich sehr akut dort, wo Texte in andere Sprachen übertragen werden sollen. Hier müssen Versformen an unterschiedliche, bisweilen stark divergierende Sprachen und Sprachräume und an veränderte prosodische Bedingungen angepasst werden. Dies ist etwa der Fall bei der Adaption antiker Versmaße an die romanischen und germanischen Sprachen. Die Suche nach den poetischen Spielräumen im engen Korsett prosodischer Gesetzmäßigkeiten bleibt aber auch unvermindert relevant bei Nachdichtungen oder Nacherzählungen in ein und derselben Sprache. Sie beginnt nicht selten bei der weichenstellenden Frage, ob an der Versform festgehalten oder in Prosa umgegossen werden soll (seltener umgekehrt): Deren Dramatik lässt sich deutlich an den beiden ältesten europäischen Epen, Homers Ilias und Odyssee, ablesen (etwa im Vergleich der strikten Versübersetzung von Johann Heinrich Voß mit der Prosaübertragung Wolfgang Schadewaldts, zweier Klassiker mit weitreichender literarhistorischer und – kritischer Bedeutung).

Wie wächst ein Text, der sich als Übertragung, Variation oder Erweiterung eines anderen zu erkennen gibt, in eine bestimmte Form hinein? Sind, gerade mit Blick auch auf ältere Phasen der Literaturgeschichte (z.B. die Antike), generische Aspekte leitend, oder ist es umgekehrt der Text als einzelnes Kunstwerk, der eine Gattung wesentlich bestimmt und ihr Formenkarussell erweitert? Diese formtheoretische Betrachtungsweise der Transfers zwischen Vers und Prosa lässt sich auch in anderen Kontexten erproben, so etwa mit Blick auf die historischen Übergänge vom Vers- zum Prosadrama im 18. Jahrhundert (und zurück zum Versdrama im Klassizismus), auf Experimente mit dem Versepos von unterschiedlicher Durchschlagskraft, auf die Entwicklung der Menippeischen Satire oder der Versnovelle nach 1780. Produktiv wäre sie nicht zuletzt bei der Betrachtung (nicht nur) moderner Versuche, Texte derart zu fragmentieren, dass ihre vormalige Versgestalt nicht mehr zu erkennen ist, ohne dass sie doch eindeutig der Prosa zuzuschlagen wären.

Sektion 2: Rhythmen (John Hamilton)

Friedrich Hölderlin soll behauptet haben, Rhythmus sei alles. Als Maß der Bewegung durch die Zeit, als Mittel der zeitlichen Regulierung, des Ausgleichs oder der Proportion hat der Begriff des Rhythmus für Vers und für Prosa gleichermaßen Relevanz. Nicht nur Metrik und Kadenz, sondern auch Plot, Sequenzierung, Prolepsen und Rückblenden gehören zu den zahlreichen rhythmischen Gestaltungsmitteln von Worten und Gedanken, von Bildern, Tönen und Gesten. Émile Benveniste zufolge diente ῥυθμός in der atomistischen Philosophie von Leukipp und Demokrit als technischer Begriff, der eine besondere Form, eine proportionierte Gestalt, Anordnung, Disposition bezeichnete. Von hier aus wäre nach den in Vers und Prosa unterschiedlichen Implikationen des Rhythmus zu fragen, eventuell auch nach einer inneren Ausdifferenzierung des einen Begriffs des Rhythmus in mehrere, zumindest wenn man anstrebte, eine genauere mediale Unterscheidung zwischen Vers und Prosa ausgehend vom Rhythmus vorzunehmen. Wie unterscheiden sich die Konzepte von Rhythmus in Vers und Prosa? Welches sind die unterschiedlichen Funktionen, Effekte und Werte? Und inwieweit können Überlegungen zum Rhythmus, gerade weil sie den Vers wie die Prosa betreffen, zu einer genaueren medialen Unterscheidung beitragen?

Entweder als Verzeitlichung des Raumes oder als Verräumlichung der Zeit verstanden, verspricht die Auseinandersetzung mit dem Rhythmus aber auch neue Einsichten in den immer wieder angestrengten Vergleich von Vers und Prosa mit der Musik, dem Tanz, der Malerei und der Geste. Während dem Vers bildhafte Tendenzen zugeschrieben werden, scheint die Prosa einem linearen Antrieb zu folgen. Die Prosa erzwingt entsprechend eine sequenzielle, quasi- historische Lektüre von Anfang bis Ende, wohingegen der Vers mit seiner zyklischen Wirkung das Auge auf der Seite hält. Zeichen und Figur, Sprechen und Singen, Gehen und Tanzen sind nur einige der vielen Dichotomien, in denen die Differenzen zwischen Vers und Prosa entworfen werden. Inwiefern lassen sich diese Spannungen zwischen Bildhaftigkeit und Linearität als Effekte rhythmischer Gestaltung beschreiben? Oder ist der Rhythmus gerade eine Zone der Indifferenz zwischen Vers und Prosa? Die Sektion lädt zur Auseinandersetzung mit Theorien des Rhythmus ebenso wie zu konkreten Fallstudien ein, in denen die rhythmischen Gestaltungsmöglichkeiten von Vers und Prosa ausgelotet werden.

Sektion 3: Materialität und Textproduktion (Sandro Zanetti)

Auf der Ebene der Materialität des Schriftbildes gehört zu den offensichtlichsten Kennzeichen von Versen, dass sie durch Zeilenumbrüche voneinander abgesetzt sind. Ihre Gebundenheit an ein metrisches Muster oder ein Reimschema mit entsprechenden prosodischen und phonologischen Implikationen kann als weiteres Kriterium hinzukommen. Die Wendung am Zeilenende, mit der Verse ihrem Wortsinn nach als ›umgewendete‹ Rede verständlich werden, und die variable rhythmische und klangliche Gebundenheit legen für Verse eine entsprechende Artikulation im Material nahe. Im Schreibprozess werden Spuren hinterlassen, die von dieser Artikulation zeugen. Die klanglichen, rhythmischen und zeilentypischen Ordnungen und Unterbrechungen können dabei in körperlich-performativen Akten parallel oder zeitversetzt zur Bewegung der Hand ihren Anlass oder ihre Fortsetzung finden (Murmeln, Vorsagen, Improvisation, Rezitation).

Die fortlaufende ›Ungebundenheit‹ der Prosa legt dagegen im Schreibprozess andere materiale, mediale und körperliche Implikationen nahe. Was aufs Papier oder den Bildschirm kommt, kann offeneren Bewegungen folgen. So etwa, wenn Jack Kerouac im April 1952 On the Road auf Endlospapier tippt. Oder wenn in elektronischen Textverarbeitungsprogrammen die einzelne Zeile oder Seite grundsätzlich variabel ist und Indifferenz diesen Faktoren gegenüber sich – wie bei Elfriede Jelinek – als produktiv erweisen kann. Allerdings bleibt in prosaaffinen Schreibumgebungen auch die Produktion von Versen möglich – so wie umgekehrt Verse wiederum in Prosa übergehen können.

Im Vorgang der Textproduktion erweisen sich die Übergänge, Interferenzbereiche und Konfrontationen, die zwischen Vers und Prosa bestehen können, für eine Analyse ihrer je spezifischen Effekte und Affordanzen als besonders aufschlussreich. In der Sektion stehen material- und produktionsästhetische Zugänge und Einzelstudien zur Vers-Prosa- Unterscheidung im Vordergrund. Was passiert, wenn Prosatexte in Versfassungen umgearbeitet werden (wie Goethe in seiner Arbeit an der Iphigenie auf Tauris)? Oder wenn das schriftbildliche Muster von Versen (prosaisch?) aufgebrochen wird (wie Mallarmé in seiner Arbeit am Coup de dés)? Auf welche materialen Dispositionen und/oder körperlichen Einsätze rekurrieren Prozesse der Versifikation und Prosaproduktion? Und was lässt sich daraus allenfalls für eine weiterführende Konzeptualisierung der Vers-Prosa-Unterscheidung lernen?

Sektion 4: Kultur und Episteme (Michael Gamper)

Poetiken und Ästhetiken der Vers-Prosa-Unterscheidung sind in ihren Verfahren und Semantiken ideologisch aufgeladen. In Versen zu schreiben bedeutet stets auch, nicht in ungebundener Sprache oder in anderen Versen zu schreiben, woraus sich eigenständige Gruppen, Gemeinschaften und Kulturen des Verses (bzw. umgekehrt: der Prosa) ergeben, die ihr Selbstverständnis wesentlich über metrisch-prosodische (bzw. rhetorisch-stilistische) Differenzen und die darin verhandelten Inhalte gewinnen. Begründet werden so spezifische Politiken und Epistemologien, die durch Verdichtung und Vernetzung, Redundanz und Hyperbolie strategische Beziehungen, agonale Verfahren und dynamische Wissenskonstellationen produzieren. In diesen Szenarien, die von Gorgias und Horaz über die Politik des Verses in der Académie française bis in die Auseinandersetzungen auf digitalen Plattformen reichen, werden politisch-ökonomische Machtkämpfe um kulturelle Vorherrschaft ausgetragen; weiter übertragen didaktische Vermittlungen mit Versen und Reimen Wissen und Autorität, und literarische Misch- und Kreuzungsformen ermöglichen in experimentellen Erprobungen neue Erkenntnisse von den Gegenständen und von sich selbst – und fordern und befördern damit das Wissen der Leser:innen.

Diese Sektion fragt nach den Affordanzen von Vers und Prosa als vielfältige kulturelle und epistemologische Reflexionsmodelle und stellt die in der Moderne bekannten Typologien von der vorwiegend rationalen und epistemischen Prosa und dem ästhetisch-dichterisch wirksamen Vers zur Diskussion – die ja ohnehin durch die umgekehrte antike Bewertung der Redeweisen konterkariert werden. Untersucht werden sollen kultur- und wissensgeschichtlich bedeutsame Vers-Prosa-Spannungsverhältnisse, in denen die als differentiell ausgewiesene Sprachbehandlung signifikante politische und/oder epistemische Ergebnisse erzeugt. Dies betrifft traditionelle Gegenstände wie die Politisierung der Vers-Prosa-Varianz im Drama, etwa im bürgerlichen Trauerspiel oder bei den Entscheidungen für die Vers- bzw. Prosa-Variante für die Aufführungen von Schillers Wallenstein. Angesprochen sind auch die epistemischen Wirkungen des Verses im Lehrgedicht oder die erkenntnispraktische Validierung von Metrisierung bzw. Rhythmisierung in Aphorismen und Merkversen. In diesen Zusammenhang gehören auch die wissensgeschichtlich einschlägigen Verfahren mit Listen in den Avantgarden und der Popliteratur ebenso wie die erkenntniskritischen Effekte von algorithmischen Experimenten der generativen Code-Literatur. Und gemeint ist auch die Welt- und/oder Persönlichkeitserkundung, die im Spiel mit der Ambiguität der Zeile in formoffenen Genres, etwa in Handkes literarischen Journalen oder in Wolfram Lotz‘ Heilige Schrift I, betrieben wird.

Zum Verfahren:
Das Organisationsteam Prof. Dr. Judith Kasper und Prof. Dr. Cornelia Zumbusch laden Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler aller Philologien (auch der außereuropäischen) sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus benachbarten Fächern (etwa Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte usf.) zur Einreichung von Vorschlägen ein, die das Grenzgebiet von Vers und Prosa in theoretischen und literarischen Fallstudien erschließen. Die Zahl der Teilnehmenden ist auf 35 begrenzt. Voraussetzung für die Teilnahme sind eine schriftliche, prinzipiell druckfertige Vorlage sowie die Bereitschaft, an allen Tagen der Veranstaltung vor Ort zu sein und mitzudiskutieren. Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reisekosten (Fahrtkosten und Tagegelder) werden von der DFG nach den Bestimmungen des Bundesreisekostengesetzes übernommen, sofern sie nicht von der Heimatinstitution getragen werden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslandes, insbesondere auch jüngere (in der Regel jedoch nicht schon Promovierende) sind gebeten, ihren Themenvorschlag (inklusive 1-2 möglicher Sektionszuordnungen) von ca. 1-2 Seiten bis zum 30.9.2023 per E- Mail an die Adresse sekretariat.zumbusch@uni-hamburg.de einzureichen. Eine provisorische Benachrichtigung der Eingeladenen erfolgt bis Anfang November 2023.
Der schriftliche Beitrag (Umfang max. 25 Seiten à 2.400 Zeichen inkl. Anm.) muss bis zum 1. Juni 2024 abgegeben werden. Die Anwesenheit während der Gesamtdauer des Symposions bildet eine wesentliche Teilnahmevoraussetzung.

Auswahlbibliographie

Agamben, Giorgio: Idee der Prosa (1985), übers. von D. Leupold und C.-C. Härle. Frankfurt/M. 2003.

Arndt, Astrid/Deupmann, Christoph/Korten, Lars (Hg.): Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede. Göttingen 2012.

Baxmann, Inge (Hg.): Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel. Paderborn/München 2009.

Bettini, Maurizio: Vertere. Un’antropologia della traduzione nella cultura antica. Turin 2012.

Czucka, Eckehard: Emphatische Prosa. Das Problem der Wirklichkeit der Ereignisse in der Literatur des 19. Jahrhunderts; sprachkritische Interpretationen zu Goethe, Alexander von Humboldt, Stifter und anderen. Stuttgart 1992.

Efimova, Svetlana/ Gamper, Michael (Hg.): Prosa. Geschichte, Poetik, Theorie. Berlin/Boston 2021.

Eßlinger, Eva/ Volkening, Heide/ Zumbusch, Cornelia (Hg.): Die Farben der Prosa (Reihe: Rombach litterae). Freiburg i. Br. 2016.

Fues, Wolfram Malte: Poesie der Prosa, Prosa als Poesie. Eine Studie zur Geschichte der Gesellschaftlichkeit bürgerlicher Literatur von der deutschen Klassik bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1990.

Jarvis, Simon: Thinking in Verse, in: James Chandler/Maureen N. McLane (Hg.): TheCambridge Companion to British Romantic Poetry. Cambridge 2008.

Kasper, Judith: Vertere. Werther und seine anderen Folgen in Leopardis Dichtung, in: Cornelia Klettke, Sebastian Neumeister (Hg.), Giacomo Leopardi. Dichtung als inszenierte Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins. Berlin 2017, S. 165-182.

Kreienbrock, Jörg: Das Medium der Prosa. Studien zur Theorie der Lyrik. Berlin 2020. Meschonnic, Henri: Critique du rythme. Paris 1982.

Meschonnic, Henri: Politique du rythme, politique du sujet. Paris 1995.

Meschonnic, Henri: Traité du rythme: des vers et des proses. Paris 1998.

Milner, Jean-Claude/Regnault, François: Dire le vers. Court traité à l’intention des acteurs et des amateurs d’alexandrins. Paris 1987.

Mülder-Bach, Inka/Kersten, Jens/Zimmermann, Martin (Hg.): Prosa schreiben. Literatur – Geschichte – Recht. Paderborn 2019.

Naumann, Barbara (Hg.): Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften. Würzburg 2005.

Simon, Ralf: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul. München 2013.

Wellmann, Janina: Formen des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760-1830. Göttingen 2010.