Als unumgängliche Konstanten (nicht nur) des menschlichen Daseins sind Geburt und Tod die beiden Größen, die wie keine dritte das individuelle und das gesellschaftliche Leben sowie seine Entfaltungsformen zu allen Zeiten bestimmen. Dass sowohl Gebären und Geborenwerden als auch Sterben und Tod trotz ihrer transepochalen Permanenz historisierbar sind, hat die geisteswissenschaftliche Forschung schon lange erkannt. Beide Größen wurden und werden je nach soziokulturellem Umfeld verschieden verstanden, mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen, in differente Diskurse eingebunden und mit einer großen Vielfalt von Praktiken ausgestaltet. Untersuchungen zu kulturellen, sozialen, religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Dimensionen von Geburt oder Tod im Mittelalter sind dementsprechend zahlreich. Rar sind hingegen bislang Studien, die Geburt und Tod gemeinsam betrachten und somit ihre Verwobenheit miteinander in Rechnung stellen. Gerade für die Mediävistik dürfte in der Zusammenschau der beiden Phänomene aber ein hohes Erkenntnispotential liegen, legen doch diverse Charakteristika der Epoche nahe, dass Geburt und Tod im Mittelalter besonders eng miteinander verbunden waren. Mit unserem Themenheft möchten wir der Frage nachgehen, wie Menschen im Mittelalter diesen Zusammenhang theoretisch und praktisch reflektierten, ausdeuteten und sich aneigneten.

Zunächst lagen Geburt und Tod im Mittelalter schlicht deshalb nah beieinander, da sie aufgrund hoher Sterblichkeiten von Müttern und Kindern während der Geburt regelmäßig zeitlich zusammenfielen. Die ernsthafte Gefahr, während einer Niederkunft oder im Anschluss daran zu sterben, war für Frauen im Mittelalter (und noch lange darüber hinaus) Teil der Lebenswirklichkeit. Ebenso musste stets mit dem Tod eines Kindes vor, während oder kurz nach der Geburt gerechnet werden. Bei der Bewältigung dieser Situationen griffen medizinische, seelsorgerliche und persönliche Strategien vielfach ineinander. So sind beispielsweise Fälle aus dem späteren Mittelalter belegt, in denen Familien Bader und Chirurgen ans Wochenbett riefen, um eine Sectio an einer bereits verstorbenen Frau durchzuführen. Vorrangiges Ziel dieses Unterfangens war jedoch nicht etwa die Rettung des so entbundenen Kindes, sondern die Möglichkeit, ihm die Nottaufe zu spenden. Dieses Vorgehen verweist beispielhaft darauf, dass Geburt wie Tod als gelungen oder missglückt erachtet werden konnten, wofür je nach zeitlicher, räumlicher und kultureller Situierung ganz unterschiedliche Normen den Ausschlag gegeben haben dürften.

Die Praxis der Nottaufe stellt überdies vor Augen, dass Geburt und Tod im Mittelalter – wie zum Beispiel schon Katharine Park aus körpergeschichtlicher Perspektive betont hat – weniger als punktuelle Ereignisse, denn als liminale Phasen zu begreifen sind. Beide Phänomene konnten in den religiös geprägten mittelalterlichen Weltbildern als Brücken zwischen Diesseits und Jenseits verstanden werden. Die in ganz unterschiedlichen Glaubenssystemen des Mittelalters existierende Vorstellung von einer Seele, die sich bei der Zeugung oder zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Körper verband und sich im Tod wieder von ihm löste, macht dies besonders deutlich. Wie in der Moderne, so wurde auch im Mittelalter umfassend darüber diskutiert, wann der Fötus zum Menschen wurde und wann der Leichnam aufhörte, ein menschlicher Körper zu sein. Mit diesen Fragen verbanden sich nicht nur naturphilosophische und theologische, sondern wie in der Gegenwart – auch juristische Problemstellungen.

Belege für die Vorstellung von Geburt und Tod als Übergangsphasen finden sich auch in den mannigfaltigen Ritualen, mit denen sie begleitet wurden und durch die die ihnen anhaftende Kontingenz gebändigt werden sollte. Das repetitive Aussprechen spezieller Gebetsformeln im Geburtsbett, die das Gelingen der Geburt sicherstellen sollten, gehören ebenso in diesen Bereich wie vielfältige Bestattungsrituale, die auf einen reibungslosen Übergang der verstorbenen Person in die nächste Welt zielten. Weitverbreitete Geschichten von Wiedergängern auf Erden und der virulente Geisterglaube zeugen davon, was im mittelalterlichen Denken die Konsequenzen sein konnten, wenn sich der Übergang verzögerte oder misslang. In Werken der Literatur und der bildenden Kunst finden sich vielfältige Reflexe auf diese Überlegungen, so etwa in einer Reihe eindrucksvoller Transi-Figuren schwangerer Frauen, auf die Marian Bleeke erst vor wenigen Jahren verwies.

Deutlich wird also: Geburt und Tod wurden im Mittelalter als liminale Phasen in hohem Maße normativ aufgeladen und mittels eines ausgesprochen breiten Formenrepertoires ausgedeutet und angeeignet. Dieser Befund bildet den höchst anregenden Ausgangspunkt für ein Themenheft, in dem die mediävistischen Disziplinen in Dialog miteinander treten und diverse Zusammenhänge zwischen Geburt und Tod aus vielfältigen, sich ergänzenden Perspektiven beleuchten. Auf diese Weise soll das Themenheft Aufschlüsse über das Verständnis, die Vorstellungen und Motive ermöglichen, die sich in der Vormoderne mit den fundamentalen Grenzphänomenen des menschlichen Daseins verbanden. Das Thema bietet denkbar weite Anknüpfungspunkte für die Geschichts- und die Literaturwissenschaften, für Religionswissenschaft und Theologie, für Archäologie und Kunstwissenschaften. Wünschenswert sind etwa Untersuchungen zur intellektuellen Verhandlung von Geburt und Tod in philosophischen und theologischen Texten; zu Werken der bildenden Kunst und der Literatur, die Geburt und Tod in Beziehung zueinander setzen; zu religiösen und mystischen Ideen von Wiedergeburt; zur Bedeutung des Zusammenhangs von Geburt und Tod im Kontext dynastischer Erbfolge; zur rituellen und performativen Begleitung von Gebären und Sterben in europäischen und außereuropäischen Kulturen im Mittelalter; zu archäologischen Befunden von Bestattungen, etwa von Säuglingen und Scheintoten; sowie zu medizinischen Dimensionen des Zusammenhangs, etwa in Hinblick auf den Tod im Kindbett. Besonders willkommen sind aber auch über diese erste Auswahl hinausreichende kreative Auseinandersetzungen mit dem umrissenen Gegenstand aus allen Fachrichtungen der Mittelalterforschung sowie Beiträge, die unter transdisziplinärem Zugriff mediävistische Blickwinkel mit anderen geistes- und naturwissenschaftlichen Perspektiven verbinden.

Abstracts im Umfang von 300 bis 500 Worten werden bis zum 15. Mai 2023 erbeten. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die Heftherausgeber*innen Dr. Benedikt Brunner (Brunner@ieg-mainz.de), Prof. Dr. Nina Gallion (ngallion@uni-mainz.de) und Dr. Christian Hoffarth (choffarth@histosem.uni-kiel.de). Bitte beachten Sie folgenden Hinweis: Das Themenheft erscheint bei Heidelberg University Publishing im Open Access unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0.

Planung des weiteren Ablaufs:
- Ende Juni 2023: Auswahl der Beiträge und Zusage an die Autor*innen
- Mitte November 2023: Einreichung der Beiträge und Weitergabe in die Begutachtung
- 1./2. Februar 2024: Heft-Workshop im Stil einer Autor*innenkonferenz (Diskussion der Beiträge) in Kiel
- Anfang Mai 2024: Abgabe der auf der Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion
überarbeiteten Beiträge
- Ende August 2024: Versand der lektorierten Texte zur letzten Prüfung
- Oktober 2024: Versand der Druckfahnen
- November/Dezember 2024: Erscheinungstermin online und im Buchhandel

Beitrag von: Marc Schäfer

Redaktion: Robert Hesselbach