Stadt: Dortmund

Frist: 2023-11-15

Beginn: 2023-09-15

Ende: 2024-03-08

Gehalt: Frist für Einreichung der Essays: 15.11.2023; Frist für die Anmeldung zum Symposium: 15.02.2024

Stellenumfang: Siehe auch unter Forschung

URL: https://www.fh-dortmund.de/medien/hochschule/2022_Mueller-Pelzer_Publications_Veroeffentlichungen_kommentiert.pdf, https://www.fh-dortmund.de/hochschule/wirtschaft/publikationen/impect/ueber_impect.php, https://www.fh-dortmund.de/hochschule/wirtschaft/publikationen/impect/impect.php

Zur Konzeption des pluridisziplinären Europaprojekts
Europa ist in aller Munde, auch wenn nicht Europa, sondern die Europäische Union gemeint ist. Die Strategie der Europäischen Union, so zu tun, als seien EU und Europa miteinander zum „europäischen Projekt“ (Emmanuel Macron) verschmolzen, erweist sich damit als ein großer PR-Erfolg. Das Verwirrspiel, Europa zu sagen und die EU zu meinen (oder umgekehrt), ist nicht auf die breite Öffentlichkeit beschränkt: Auch im akademischen Bereich wird diese Äquivokation immer gebräuchlicher. Damit wird eines der Ziele eines akademischen Studiums unterlaufen, nämlich das analytische Vermögen der Studierenden zu schärfen. Durch die Vermengung unterschiedlicher Wirklichkeitsbereiche kann es zu irritierenden Zuschreibungen kommen: Gehört es zum Europäer- bzw. Europäerin-sein, Krieg zu führen und sich zu einem wirtschaftsimperialen Global Player aufzuschwingen, dessen politische Steuerung sich zunehmend der demokratischen Kontrolle entzieht, der die europäischen Hoch- sowie Regionalsprachen abwickelt und diese zusammen mit den geschichtlich gewachsenen Lebensstilen lediglich als museale Relikte der Vergangenheit konserviert?
Mit der Formulierung des Projekts “Europa ja – aber welches?” wird der Titel des Buches von Dieter Grimm (Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München, 2016, C.H. Beck) aufgegriffen. Die provozierende Frage, die der Autor in verfassungsrechtlicher Hinsicht aufgeworfen hat, lässt sich auf die Lage der europäischen Sprachen übertragen. Der Verfassungsrechtler Grimm wendet sich gegen die Unterdrückung des europäischen Rechtsempfindens durch politisch-ideologische Zweckbestimmungen: Die Rechtskulturen der sich europäisch verstehenden Länder, in welche spezifische Ausformulierungen der anthropologischen Grundüberzeugungen eingegangen sind, werden nach seinen Analysen zusehends vom Gerichtshof der Europäischen Union kassiert. Diese Unterdrückung von Normen des europäischen Zusammenlebens, die von vielen als unverzichtbar empfunden werden, lässt sich ebenso auf die Verdrängung der europäischen Sprachen und Lebensstile durch eine naturalistische und reduktionistische Weltsicht übertragen, die vom globalen Englisch verbreitet wird. Die von Jürgen Trabant u.v.a. seit langem kritisierte EU-Sprachenpolitik (zuletzt: Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen, München, 2014, C.H. Beck) beruht nicht allein darauf, dass manche EU-Repräsentanten nicht verstehen, was Europa bedeutet, sondern dass die Vertreter des Globalismus es nicht verstehen wollen (siehe dazu Philippe van Parijs: Linguistic Justice for Europe and for the World, 2011, Oxford UP): Das absehbare Verschwinden der „kleinen“ europäischen Sprachen wird schulterzuckend in Kauf genommen. Doch selbst hinter der glanzvollen Fassade der vermeintlich „großen“ Sprachen zeigt der Sieg des globalen Englisch als Wissenschaftssprache unmissverständlich die ersten Auflösungserscheinungen der voll ausgebauten Kultursprachen an. Deshalb ändert auch die Gründung von europäischen Elite-Universitäten ebenso wenig wie das Prestige-Unternehmen der Deutsch-Französischen Hochschule etwas daran, dass sogar das Deutschlernen in Frankreich und das Französischlernen in Deutschland immer mehr an Boden verliert: Der machtpolitisch-kommunikative Nutzen von Sprachen weltweit wird zunehmend zum Kriterium, das bei der Sprachenwahl den Ausschlag gibt.

Zu den erbetenen Beiträgen:
In diesem Sinne lädt das Projekt “Europa ja – aber welches?” ein zu einer Besinnung auf das, was Europa – unter Abhebung von der EU – heute sein sollte und sein kann. Die erbetenen Beiträge sollen sich deshalb nicht auf die EU-Agenda beziehen. Der Zusatz im Veranstaltungstitel “Erfahrungen und Reflexionen” weist auf einen wichtigen Unterschied zu üblichen Aufrufen hin, Beiträge einzureichen: Es geht nicht allein um Ergebnisse gedanklicher Abstraktion, sondern ebenfalls um subjektive Erfahrungen in und mit Europa, die die Autorinnen und Autoren auf den Weg der Reflexion gebracht haben. Möglicherweise kommen dabei die Implikationen zur Sprache, die mit der Äquivokation des Begriffs Europa verbunden sind. Deshalb werden die Beitragenden auch eingeladen, von der analytischen Distanz zur ursprünglichen, affizierenden Erfahrung zurückzukehren und von deren fortwährender Bedeutsamkeit zu berichten. Aus diesem Grund sollen die Erfahrungen und Reflexionen nach ihrer schriftlichen Fixierung (1. Stufe) zusätzlich im Rahmen eines Symposiums (2. Stufe) in Rede und Gegenrede erneut „verflüssigt“ werden – in der Erwartung, an die Erfahrungen anderer Teilnehmer und Teilnehmerinnen anschließbar zu werden.
Da die hier gemeinte Bedeutsamkeit von Europa von keiner wissenschaftlichen Disziplin reklamiert werden kann, gibt es für die Beiträge keine speziellen methodischen oder thematischen Ausschlusskriterien; auch essayistische, die subjektive Lebenserfahrung einbeziehende Texte sind willkommen. Die eingereichten Beiträge werden deshalb nicht von einem Gremium von Expertinnen bzw. Experten vorsortiert: Die Respektierung der allgemeinen Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens soll ausreichend sein.
Die Beiträge können in der jeweils bevorzugten europäischen Sprache eingereicht werden, begleitet von einer englischen Kurzfassung (2 DIN-A 4-Seiten). Ist die bevorzugte Sprache Englisch, sollte zusätzlich die Kurzfassung in einer gängigen europäischen Sprache (2 DIN-A 4-Seiten) vorgelegt werden.
Zur Anregung folgen hier Vorschläge für Untersuchungsfragen:
• Wie kann die Unterscheidung von Europäischer Union und Europa begrifflich begründet werden?
• Wie ist die Behauptung zu verstehen, dass zentrale europäische Werte zugleich einen globalen Geltungsanspruch erheben können?
• Welche Bedeutsamkeit haben die europäischen Sprachen für den europäischen Zivilisationstyp? Wie lässt sich gegen den herrschenden Positivismus plausibel machen, dass es bei allen Unterschieden ein europäisches Lebensgefühl gibt und wie es entstehen kann?
• Wie kann ein europäisches Wir-Gefühl entstehen, das die Sprachen jenseits der 5 großen europäischen Sprachen (E, D, F, S, I) ernst nimmt?
• Bietet die schulische Methode der Intercomprehension in Europa Vorteile für die große Zahl der sog. kleineren bzw. kleinen, ggf. in ihrem Bestand bedrohten europäischen Sprachen?
• Wie müsste eine interkulturelle Kompetenz aus europäischer Perspektive aussehen, welche nicht den Nutzen für globale Interessen in den Mittelpunkt stellt, sondern die affektive Nostrifizierung unter Europäerinnen und Europäern?
• Wie steht es in den europäischen Universitäten um die europäischen Hochsprachen als Wissenschafts- und Lehrsprachen angesichts des Siegeszuges des globalen Englisch?
• Was meint Jürgen Trabant mit „Sprachkapitalismus“ (S. 86) und „Selbst-Barbarisierung der Sprachen Europas“ (93)?
• Sind Maßnahmen denkbar, um sich in der europäischen Wissenschaftskommunikation einer größeren Zugangsgerechtigkeit zwischen dem globalen Englisch und europäischen Sprachen anzunähern?
• Worin besteht der Unterschied zwischen den Fragen: Was ist Europa? und: Was bedeutet mir Europa?
• Gibt es Lernorte, wo junge Europäerinnen und Europäer frei von politischen Vorgaben erfahren können, was es mit Europa auf sich hat?
• Ergeben sich aus einer revidierten europäischen Perspektive Konsequenzen im Hinblick auf den “spatial turn”?
Beim Symposium wird von der Selbstverständlichkeit ausgegangen, die Arbeitssprache nach Bedarf zu wechseln.

Beitrag von: Werner Müller-Pelzer

Redaktion: Robert Hesselbach