Stadt: Angers (Frankreich)

Frist: 2023-07-15

Beginn: 2023-11-23

Ende: 2023-11-24

URL: https://recherche.uco.fr/actualites/les-oubliees-et-invisibles-la-face-cachee-etres-faits-et-objets-dans-le-contexte-franco

Internationale Tagung am 23. und 24. November 2023 an der Université catholique de l’Ouest (Angers, Frankreich)

Eine erste Tagung zum Thema „Vergessene und Unsichtbare im deutsch-französischen Kontext“ fand im Juni 2022 in Angers (Frankreich) statt, mit dem Ziel, die Erinnerung an Personen, Geschehnisse und Werke des 19. und 20. Jahrhunderts wachzurufen, die in der Geschichtsschreibung unberücksichtigt geblieben, vergessen, absichtsvoll oder unabsichtlich verborgen geblieben sind. Diese zweite Tagung legt den Akzent auf einen anderen Aspekt: Es geht diesmal darum, bisher unbeachtete Facetten und Aspekte von bekannten Personen, Tatsachen oder Werken aufzudecken, aufzuspüren oder zu enthüllen, weiterhin in einem deutsch-französischen Kontext (im weiten Sinne), aber unabhängig von einer bestimmten Epoche. In diesem Rahmen ist es auch durchaus möglich, eine neue Herangehensweise an eine vermeintlich erschöpfend bearbeitete Thematik vorzuschlagen.

Die Tagung umfasst 5 (gerne auch weitere!) Bereiche:

1. Mythen
Schon Roland Barthes (Mythologies, 1957) ging davon aus, dass im Medienzeitalter eigentlich alles zum Mythos werden könne, da die Mythisierung nicht am Gegenstand selbst hafte, sondern an der Art und Weise, wie dieser repräsentiert werde. Dies gilt nicht nur für unser Medienzeitalter, sondern allgemein für den Blick, den wir auf Vergangene(s) werfen, wie auch Martin Sabrow in Die Macht der Mythen (1998) herausstellt. Biographen zum Beispiel betonen nur einige Aspekte einer Persönlichkeit, verschweigen andere oder lassen sie völlig unberücksichtigt; das vermeintlich Ambivalente einer Person (oder auch eines Ereignisses) muss daher – so Sabrow – eher als Ausdruck des ambivalenten Gedächtnisses der Mit- und Nachwelt interpretiert werden.
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie das öffentliche Bild einer Person geschmiedet wird und sich über Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte hält, bietet Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871), der (neben seinen Parkschöpfungen) als vermeintlicher Erfinder des Eises, das seinen Namen trägt, als ständig verschuldeter Lebemann und Frauenheld erinnert wird. Adelskultur und galantes Schreiben (das nicht immer reale Liebesgeschichten impliziert) werden dabei ausgeblendet, aber auch durch Pückler initiierte Kulturtransfers aus Großbritannien, Frankreich und dem Orient sowie seine Eingebundenheit in ein internationales Netzwerk, seine Tätigkeit als Journalist und Herausgeber.
Ein anderes Beispiel liefert die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685, die in der französischen Erinnerungskultur lange mit dem Widerstand und dem Märtyrertum der Hugenotten verbunden war, die auf Galeeren geschickt oder ins Exil (u.A. nach Preußen) gezwungen wurden. Der Historiker Jacques Poujol konnte jedoch aufzeigen, dass es einerseits in Frankreich schon lange vor der Aufhebung des Edikts Verfolgungen von Protestanten gab und andererseits diese (für den König überraschend) zahlreich und schnell zum Katholizismus übertraten. Die fast mythisch anmutende Darstellung des Exils und der harten Sanktionen beruht daher auf belegbaren Tatsachen, verschwieg allerdings lange diese anderen Aspekte, aufgrund dessen der König sogar das Datum der Aufhebung vorgezogen hatte.
Martin Sabrow fragt sich in Die Macht der Mythen (1998), wieviel Vertrauen man der Geschichtsschreibung überhaupt beimessen kann. Kann sie darstellen, wie es wirklich gewesen ist (z.B. auch 1968 und 1989) oder gibt es kein Entrinnen aus dem Gefängnis der Gegenwart, die sich die Vergangenheit immer auf’s Neue nach ihrem eigenen Blick formt? Dabei handelt es sich beim Mythos laut Erik H. Erikson nicht wirklich um eine Lüge, sondern vielmehr um die Verschmelzung historischer Tatsachen und Dichtung, die in einem Zeitalter oder einem Land „wahr“ klingt.

2. Blinde Flecken / Tote Winkel
Als blinder Fleck (in der Augenheilkunde eine lichtunempfindliche Stelle auf der Netzhaut) im übertragenen Sinne wird – zum Beispiel bei Christa Wolf – das Unbewusste, Nicht-Sichtbare, Noch-Nicht-Erklärbare bezeichnet, das was wissentlich oder unwissentlich versteckt oder im Gedächtnis verschüttet wird. Nicht zuletzt möchte sich das Individuum oder auch eine Gruppe so vor nicht eingestehbarem, eigenem moralisch verwerflichen Verhalten schützen. Sie haben dann nichts gesehen, nichts gewusst, nichts gesagt.
Lange Zeit wurde zum Beispiel über den Antisemitismus von Martin Luther geschwiegen, wohl auch um das positive Bild von ihm als Bibelübersetzer und Förderer der deutschen Sprache nicht zu verdüstern. Andere Persönlichkeiten werden wiederum nur in dunklen Farben gezeichnet wie z.B. Catharina von Medici, die noch dazu immer in Trauerkleidung dargestellt wird, obwohl sie nicht zeitlebens Witwe war.
Ein undramatischeres deutsch-französisches Beispiel für im Schatten Gebliebene(s) stellt auch Stéphanie de Beauharnais (1789-1860) dar, eine entfernte Verwandte von Joséphine, die von Napoleon aus dynastischen Gründen von ihm adoptiert und aus politischen Gründen mit dem Großherzog von Baden verheiratet wurde. Aus der anfangs unglücklichen, als „Französin“ ungeliebten jungen Frau wurde die früh verwitwete, hoch angesehene Landesmutter, an deren Hof in Baden-Baden sich allsommerlich die europäische Elite zusammenfand.

3. (Vor)Urteile / Klischees / Stereotype / Topoi
Gewisse Thematiken, deren Korpus umfangreich und bekannt ist, erscheinen mitunter definitiv erforscht und analysiert. Allerdings kann eine kritische Neubewertung schon erfolgte Analysen in Frage stellen und diese vielmehr als Klischees, Topoi, ja Vor-Urteile identifizieren. Das westdeutsche Kino der Adenauer-Zeit liefert dafür ein hervorragendes Beispiel. Lange wurde es belächelt, wenn nicht sogar als eine Reminiszenz des Nazi-Kinos betrachtet. Erst kürzlich erfuhr es eine neue Bewertung. In einem sehr gut recherchierten, im Januar 2023 erschienenen Artikel zeichnet Jonathan Schilling gekonnt diesen Perspektivwechsel nach und definiert den sogenannten Heimatfilm neu, indem er dessen Rolle und bis dahin unbeachtete Aspekte miteinbezieht: den immensen Publikumserfolg und die Popularität der Schauspieler. Ebenfalls im Bereich des Kinos hat Markus Spieker in seiner 1999 veröffentlichten Dissertation herausgestellt, dass, im Gegensatz zu vorherigen Annahmen, amerikanische Filme sehr wohl auch im Dritten Reich gezeigt wurden. Bis zum Kriegseintritt der USA arbeitete nämlich die Kinoindustrie in Hollywood eng zusammen mit Nazi-Deutschland und konnte so auch weiterhin amerikanische Filme exportieren. Um dies zu tun, so stellt Spieker heraus, akzeptierten die Amerikaner die von den Nazis aufgestellten Bedingungen: keine Juden, weder als Schauspieler noch als Techniker.

4. Palimpseste
Ein Palimpsest ist eine Manuskriptseite oder -rolle, deren erste Aufschrift entfernt wurde, um eine andere darauf anzubringen, wobei die erste nicht ganz verschwindet, sondern das Alte unter dem Neuen hindurchscheint. Im übertragenen Sinn versteht man also unter Palimpsesten (oder auch Hypertexten) alle Werke, die von einem älteren Werk abgeleitet sind, durch Veränderung oder Nachahmung. Der Platz und das Wirken dieser „Literatur auf der zweiten Stufe“ wurde im literarischen Bereich lange verkannt und unterschätzt, bis Gérard Genette sie ab den 1980erJahren intensiv erforschte.
Das Konzept des Palimpsests beschränkt sich aber nicht nur auf literarische bzw. intertextuelle Analysen, sondern lässt sich auch auf Untersuchungen von Landschaften, Stadtentwicklung und die Historiographie anwenden. Fachübergreifend und in den verschiedensten Bereichen kann auf die Publikation des Vereins Antikomplex Das verschwundene Sudentenland (2004) hingewiesen werden, das, auf Fotos gestützt, profunde Veränderungen dokumentiert, die der Westen der Tschechoslowakei nach der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung 1945 erfahren hat. Auch zu nennen ist der Beitrag von Eva Touboul « La récupération de la mémoire historique: un palimpseste historiographique ? » über die Geschichte der Francozeit, den spanischen Bürgerkrieg und deren Narration. Die Autorin stellt Parallelen zwischen der Geschichtsschreibung und dem historischen Erinnerungsroman fest, aus der Perspektive einer Transtextualität, die auf das Palimpsest und andere Techniken zurückgreift, wobei versteckte Verbindungen sichtbar werden.

5. Tabus
Alexander und Margarete Mitscherlich zufolge lautet die zentrale Definition eines Tabus: „Wo immer man nicht mehr weiter zu fragen wagt oder nicht einmal auf den Gedanken kommt, es zu tun, hat man es mit einem Tabu zu tun. […] Tabus halten also den Erkenntnisstand tief.“ (S. 111 f.). In seinem Werk Les tabous de l’histoire, unterstreicht der Historiker Marc Ferro, man müsse unterscheiden zwischen Tabu und Verbot. Letzteres beziehe sich auf etwas, was nicht erlaubt sei. Das Tabu sei auch abzugrenzen von Selbstzensur und Zensur. Florian Mildenberger und Hartmut Schröder gehen beispielsweise davon aus, dass die Ende der 1990er Jahre erfolgte Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht nichts wirklich Neues gebracht hat, aber öffentlich ein Tabu gebrochen habe, das die Hauptverantwortlichen selbst aufgestellt hatten, nämlich die Behauptung, nur Hitler allein sei für die Kriegsverbrechen verantwortlich gewesen.
Die Benutzung des Terminus « Tabu » kann auch überstrapaziert werden: In den Jahren 2000 behaupteten viele Journalisten und Filmemacher, die Flucht und Vertreibung der Deutschen sei ein Tabu-Thema gewesen, womit sie gerade das Interesse an ihren Produktionen weckten bzw. wecken wollten. Diese Überzeugung, die beim breiten Publikum noch immer vorherrscht, entpuppt sich bei genaueren Untersuchungen fast als ein Mythos.

Die Tagung konzentriert sich auf den deutsch-französischen Kontext und die Bereiche Literatur, Philologie, Geschichte und Kunstgeschichte sowie Landeskunde und Politik. Dabei sollen die « deutsch-französischen Beziehungen » und darüber hinaus die Beziehungen zwischen Frankreich und deutschsprachigen Sphären präzisiert, nuanciert und vertieft werden.
Die Beiträge können auf Deutsch oder Französisch erfolgen. Eine Publikation ist vorgesehen.
Vorschläge (maximal 3000 Zeichen) sollten bis zum 15. Juli 2023 mit einer kurzen wissenschaftlichen Biografie an beide folgende Adressen geschickt werden: brigitte.pirastru@uco.fr und andrea.micke-serin@uco.fr.

Bibliographie:
Antikomplex (Ed.), Das Verschwundene Sudetenland (Zmizelé Sudety), Prag: Antikomplex, 2004
Erikson Erik H., Kindheit und Gesellschaft (1957), Stuttgart: Klett-Cotta, 1982
Ferro Marc, Les tabous de l’histoire, Paris : NiL Editions, 2002
Genette Gérard, Palimpsestes, Paris : Seuil, 1982
Genette Gérard, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993
Hilzinger Sonja (Hg.), Christa Wolf. Sämtliche Essays und Reden, Band 1: 1961–1980 Lesen und Schreiben, Band 2: 1981–1990 Wider den Schlaf der Vernunft, Band 3: 1991–2010 Nachdenken über den blinden Fleck. Berlin: Suhrkamp, 2021
Jacob Joachim, Nicklas Pascal, «Einleitung: Der Palimpsest und seine Lesarten» in: Palimpseste. Zur Erinnerung an Norbert Altenhofer. Hg. dies. Heidelberg: Winter 2004
Mitscherlich Alexander und Margarete, Die Unfähigkeit zu trauern (1967), München: Piper Verlag, 1988
Osthues Julian, Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Bielefeld: transcript, 2017
Pfeil Ulrich (Hg), Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XXe siècle – Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bern u.A: Peter Lang, 2012
Poujol Jacques, « Sans attendre 1685, le “nettoyage” des Cévennes » in : Réforme n° 2084, L’édit de Nantes est révoqué, Paris : 23 mars 1985
Sabrow Martin, Die Macht der Mythen. Walther Rathenau im öffentlichen Gedächtnis, Berlin: Verlag Das Arsenal, 1998
Schilling Jonathan, « Mehr als Heimatfilm. Ruth Leuwerik, „Die Trapp-Familie“ und der Publikumsgeschmack der Adenauer-Zeit » in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 1, Januar 2023, De Gruyter Oldenbourg
Spieker Markus, Hollywood unterm Hakenkreuz. Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich, Filmgeschichte International, Schriftenreihe der Cinémathèque Municipale de Luxembourg, Band 6, Trier/ Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1999
Tedoldi Michel, Un pacte avec le diable, Paris : Fayard 2023

Organisation:
Dr. Andrea MICKE-SERIN (Université catholique de l’Ouest, Angers)
Dr. Brigitte RIGAUX-PIRASTRU (Université catholique de l’Ouest et Université d’Angers)

Wissenschaftlicher Beirat:
Dr. Andrea MICKE-SERIN (Université catholique de l’Ouest, Angers)
Dr. Brigitte RIGAUX-PIRASTRU (Université catholique de l’Ouest et Université d’Angers)
Prof. Dr. Gwénola SEBAUX (Université catholique de l’Ouest, Angers)
PD Dr. Jens SPÄTH (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Universität des Saarlandes)