Stadt: Paris

Frist: 2015-03-30

URL: http://trajectoires.revues.org./

Die neunte Themenausgabe von Trajectoires hat sich das Ziel gesetzt, den Status und die verschiedenen Bedeutungen der Lüge und der Manipulation in den Geistes- und Sozialwissenschaften aus einer interdisziplinären Perspektive zu beleuchten. Die Lüge wird dabei gleichermaßen als theoretischer wie als empirischer Untersuchungsgegenstand betrachtet, der auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten ist: von der ideologischen und institutionalisierten Lüge bis hin zu Alltagsphänomenen wie Höflichkeitsfloskeln oder Werbung.

Die Lüge kann als wissentliche Weitergabe einer falschen Information verstanden werden, die einen bewussten oder unbewussten Vorteil verspricht. Dabei lässt sich die Lüge nicht auf die Falschaussage beschränken – auch wenn dies ihre verbreitetste Form sein mag –, da sie auch in einem Bild, einer Geste oder sogar in der Auslassung des Sprechakts bestehen kann (Lüge durch Verschweigen). Unter der Annahme, dass die Lüge eine soziale Funktion erfüllt, kann sie als Mittel oder Strategie eines Manipulationsakts verstanden werden, der die eigene Position im sozialen Raum festigen oder verbessern soll. Insofern die Lüge ethischen Bewertungskriterien unterworfen ist, fügt sie sich in ein Wertesystem oder einen pädagogischen Kollektivauftrag ein, der sie in bestimmten Situationen zu billigen, wenn nicht gar zu erfordern scheint.
Die Allgegenwart sowie der Facettenreichtum der Lüge in Form (Aussage, Bild, Film, Körpersprache, etc.) und Art (Erfindung, Fälschung, Plagiat, Auslassung etc.) machen sie zu einem variablen Konzept, das alle Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften durchzieht und auch die Naturwissenschaften – insbesondere die Neurowissenschaften und die Psychologie – beschäftigt.

Für die Philosophie ist die Auseinandersetzung mit der Lüge zentral und so alt wie die Disziplin selbst. Platon bringt gegen die Immoralität der Lüge, aber ebenso gegen die Sophistik etwa die unverbrüchliche Verbindung von Philosophie und Wahrheit in Stellung. Die christliche Philosophie, von Augustinus bis Thomas von Aquin, verwirft die Lüge als Störung der göttlichen Ordnung und bezeichnet sie als Teufelswerk. Das Urteil über die Lüge ist allerdings nicht immer so eindeutig gewesen. In der Moralphilosophie – z. B. in der berühmten Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Benjamin Constant – wird die Legitimität der Lüge zwischen dem kategorischen Verbot und der gelegentlichen Billigung hinterfragt.

In dem Maße, in dem die Lüge (wie zumeist) in Form einer Sprachäußerung auftritt, haben sich auch die Sprachwissenschaften ihrer angenommen. Harald Weinrich hat eine Analyse der sprachlichen Beschaffenheit der Lüge vorgelegt, die er auf verschiedenen Ebenen – etwa in den stilistischen Mitteln der Bildlichkeit und der Ironie – beleuchtet (Weinrich, 1966). In jüngerer Zeit haben sich die Forscher rund um den linguistic turn mit der sprachlichen Verfasstheit des Wissens an sich auseinandergesetzt. Ohne die wissenschaftliche Textproduktion als grundsätzlich unwahr auszuweisen, haben sie angesichts der narrativen und fiktionalen Verfahrensweisen des wissenschaftlichen Schreibens die Objektivitätskriterien und den Wahrheitsanspruch jeglichen Erkenntnisprozesses hinterfragt.

In der Literatur wird die Lüge einerseits als Erzählsubjekt herangezogen, sei es in der Form von lügenden Protagonisten, sei es in der Form unzuverlässiger oder manipulierender Erzähler. Andererseits ist das semantische Feld der Lüge auch anschlussfähig für die Konzeptualisierung literarischer Invention. Die in Aristoteles’ Poetik getroffene Unterscheidung zwischen dem Historiker als Chronisten des Besonderen und dem Dichter als Verkünder allgemeiner Wahrheit wurde zum Ausgangspunkt einer anhaltenden Debatte über die literarische „Wahrheit“ und das Verhältnis von Fiktionalität und Wirklichkeit. Diese ist keineswegs nur den Expertenkreisen vorbehalten, sondern wird auch in den literarischen Texten selbst ausgetragen, wie beispielsweise im Begriff des „Wahr-Lügens“ von Louis Aragon.

Auch wenn der Begriff der Lüge in der Kunst- und Architekturgeschichte kaum explizit Verwendung findet, stellt er einen Extremfall des Begriffsfeldes um die Illusion dar und wird im Gegensatz von Authentischem und Falschem sichtbar. Wird der Begriff der Illusion besonders gern in Bezug auf die Epoche des Barock verwendet, so erscheint die Suche nach Authentizität in der Materialität, in der Reproduktion des Werks oder in dem Verhältnis von Inhalt und Form ein zentrales Anliegen der Moderne. Die postmoderne Architektur wiederum greift ihrerseits auf Maskeraden und Widersprüche zurück. Aktuell werfen Rekonstruktionen historischer Gebäude insofern die Frage der Echtheit auf, als den Gebäuden ein „falsches“ Alter eingeschrieben wird. Durch alle Epochen hindurch haben sich Architekten und Künstler schließlich Verfahren bedient, die die Sinneswahrnehmungen ihrer Betrachter manipulieren, um wirtschaftlichen Interessen, gesellschaftlichen und institutionellen Erwartungen oder politischen Zwängen zu genügen. Einen Sonderfall, der die Frage der Manipulation und der Fälschung in der Kunstgeschichte berührt, ist die Figur des Fälschers oder des unlauteren Genies. Auf einer übergeordneten Ebene lädt diese Frage zu einem grundsätzlichen Nachdenken über die institutionellen Bedingungen der – teilweise fälschlichen – Zuschreibung von Kunstwerken ein.
Auch juristisch ist die Lüge schwer zu fassen. In Gesetzestexten gibt es keine allgemeingültige Definition, aber in verschiedenen Anwendungsbereichen des Rechts finden sich Begriffe, die sich auf die Problematik von Wahrheit und Lüge beziehen, zum Beispiel in Begrifflichkeiten wie ‘Meineid’ oder ‘arglistige Täuschung’. Es besteht jedoch keinesfalls eine klare Dichotomie, die die Lüge stets verurteilt und ihr die Verpflichtung auf die Wahrheit gegenüberstellt. Die moralische Einordnung ist umstritten, ließe sie sich doch nur philosophisch, soziologisch oder rechtstheoretisch behandeln. Zugleich ist die (bewusst oder unbewusst geäußerte) Unwahrheit eine alltägliche Tatsache und muss daher rechtlich Beachtung finden. Hieraus begründet sich die Relevanz einer Definition des Begriffs der Lüge bzw. des Lügens in seinen soziologischen, historischen, theoretischen und anderen Facetten.

Während die Geschichtswissenschaft als Suche nach Wahrheit verstanden werden kann, kann sie sich gleichwohl nicht mit einer einzigen, festen und unveränderlichen Wahrheit begnügen, da die Arbeit des Historikers in einer ständigen Hinterfragung der Vergangenheit und etablierten Wissens besteht, die durch neue Quellen und Interpretationsmodelle bedingt wird (Jahan, 2007). Was die Lüge selbst, bzw. die Fälschung anbelangt, so scheinen diese hingegen sehr wohl greifbar, wie es Henry Rousso gezeigt hat. Mit dem Konzept des „Negationismus“ (Rousso, 1987) klagt er jene an, die durch die „schlichte Leugnung etablierter Fakten“ die Arbeit der Historiker zu verfälschen suchen (Rousso, nach Jouanneau, 2008: 118). Angesichts dieser Gegenüberstellung einer ständig von neuem hinterfragten Wahrheit und einer Praxis der bewussten Täuschung lässt sich fragen, wie bestimmte Praktiken und Kontroversen verstanden werden können: z.B Interpretation der Geschichte auf Grundlage stark ideologisch geprägter Blickwinkels; die radikale Kritik an historiographisch dominanten Positionen wie sie Ernst Nolte im Historikerstreit vorbrachte; oder die Instrumentalisierung der Geschichte für politische Ziele, insbesondere zur Konstruktion und Glorifizierung nationaler Geltungsgeschichten, etc.

Der Begriff der „Lüge“ gehört nicht nur in die Ethik des Historikers, die Lüge ist ihm auch selbst ein Erkenntnisgegenstand. In der Renaissance und in der Frühen Neuzeit hat sich um die Begriffe der simulatio (die Vortäuschung dessen, was nicht ist) und dissimulatio (das Verbergen dessen, was ist) z.B. eine regelrechte Wissenschaft der Täuschung und Camouflage entwickelt. Jean Pierre Cavaillé und Jon Snyder haben gezeigt, welche Bedeutung intellektuelle und politische Eliten der Kunst der Maskierung in diesem Zusammenhang zumaßen (Snyder, 2009 und Cavaillé, 2002). Freilich war die Lüge nie ein Privileg der Gebildeten und Standespersonen, umso mehr, da die Grenzen zwischen Selbstentwurf und Lüge in allen Schichten unscharf sind (Davis, 1983). Die lange Geschichte des Betrugs ist zugleich – Valentin Groebner hat das gezeigt – die Geschichte der Identifizierung und die Geschichte jener Techniken, die die Obrigkeiten einsetzen, um die individuelle Identität der Untertanen zu bestimmen (Groebner, 2004).

Die Lüge ist auch in der Politikwissenschaft ein wichtiger Erkenntnisgegenstand. Wahrheit und Lüge spielen hier eine zentrale Rolle, auch wenn diese Kategorien nur selten explizit benannt werden. Die Wahrheit des eigenen Worts zu beanspruchen, ist Bestandteil nahezu jeder politischen Rede, so dass dieser Anspruch zur bloßen rhetorischen Geste verkommen kann – ganz nach Niccolò Machiavelli, der „Politik“ und „Moral“ scharf voneinander trennte (Machiavelli, 1972). Sofern dies die Frage nach der Legitimität einer solchen Instrumentalisierung aufwirft, kann man sich der der Lüge auch auf der Ebene der politischen Theorie annähern. Die Politikwissenschaft befasst sich bekanntlich mit der Frage der Konstitution und der Erhaltung von Macht, wobei die Lüge eine asymmetrische Informationslage erzeugt, die, wie Simmel gezeigt hat, zum Herrschaftsinstrument und zum Mittel der Aneignung von Macht werden kann (Simmel, 2008). Die Lüge ist also als ein Strukturmerkmal politischer Beziehungen anzusehen, das der analytischen und systematischen Untersuchung bedarf.

Das Themendossier widmet sich einer Untersuchung der Lüge in ihren unterschiedlichen Kontexten und Erscheinungsformen. Verschiedene Blickwinkel auf die Lüge kommen somit in Betracht, sind aber keineswegs erschöpfend:

1) Die Illusion: Die erste Achse beschäftigt sich mit der durch die Lüge aufgebauten Gegenwelt (Fiktion, Fassade, Montage, Attrappe), die als ein konstruktives Prinzip der Kunst, der Literatur oder der Werbung, aber auch der sozialen Beziehungen im Allgemeinen erscheint.

2) Die Instrumentalisierung: Die zweite Achse widmet sich der Lüge im Dienste eines Glaubenssystems oder eines Systems vorgefasster Doktrinen (Ideologie, Religion) sowie/ oder der Lüge in ihren handlungsleitenden Funktionen (Werbung, Propaganda).

3) Die Simulation und die Dissimulation: Die dritte Achse erlaubt es, die Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen zu befragen und richtet die Aufmerksamkeit auf instabile Kategorien (die Lüge durch Verschweigen und die strategische Lüge, welche mehr gegen die Aufrichtigkeit als gegen die Wahrheit verstoßen, oder die Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Wahrscheinlichen).

Das Themendossier der neunten Ausgabe von Trajectoires setzt sich somit das Ziel, einen interdisziplinären Beitrag zur Ergründung der Konzepte von Lüge und Manipulation zu leisten. Wir begrüßen deswegen insbesondere Beiträge, die eine Konzeptualisierung oder Definition dieser Begriffe von Autoritätsfiguren auf der Grundlage von Fallbeispielen oder von empirischen, theoretischen oder literarischen Quellen vornehmen. Wir freuen uns zudem über vergleichende Untersuchungen aus dem deutsch- und französischsprachigen Raum.

Trajectoires veröffentlicht Beiträge von Nachwuchswissenschaftlern (Doktoranden, Post-Doktoranden und eventuell Master-Studenten) aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Artikelvorschläge in französischer oder deutscher Sprache (nicht länger als 5000 Zeichen, inkl. Leerzeichen) sollten die Fragestellung, die Methode, den Quellenkorpus bzw. das Terrain, den deutsch-französischen Bezug und die zentralen Argumente deutlich machen. Wir bitten um Zusendung der Vorschläge und eines akademischen Lebenslaufs bis zum 30. März 2015 an die Redaktion (trajectoires@ciera.fr).

Die ausgewählten Beiträger/innen werden bis Mitte April benachrichtigt; der Abgabetermin für die Artikel ist der 1. Juni 2015. Die Beiträge werden anschließend in einem doppelten Peer-Review begutachtet. Weitere Informationen für interessierte Autoren sind auf der Homepage von Trajectoires verfügbar: http://trajectoires.revues.org/472.

Die Zeitschrift Trajectoires, travaux de jeunes chercheurs du CIERA wird auf dem Portal Revues.org: http://trajectoires.revues.org veröffentlicht.

Zitierte Literatur
Aragon, Louis (1980): Le mentir-vrai. Paris (Gallimard).
Cavaillé, Jean-Pierre (2002): Dis/simulations: Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto : religion, morale et politique au XVIIe siècle. Paris (Champion).
Davis, Natalie Zemon (1983): The Return of Martin Guerre. Cambridge (Harvard University Press).
Groebner, Valentin (2004): Der Schein der Person: Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München (Beck).
Jahan, Sébastien (2007): „Trous de mémoire, silences, relectures apologétiques et histoire de colonisation: du bon usage du terme négationnisme“, Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique, 101, URL : http://chrhc.revues.org/595.
Jouanneau, Bernard (2008): La Justice et l’Histoire face au négationnisme : Au cœur d’un procès, Paris (Fayard).
Machiavelli, Niccolò (1995): Der Fürst. Frankfurt am Main (Insel).
Rousso, Henry (1987): Le syndrome de Vichy. Paris (Seuil).
Simmel, Georg (2008): „Zur Psychologie und Soziologie der Lüge“, in: Individualismus in der modernen Zeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 84-94.
Snyder, Jon (2009): Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe. Berkely (University of California Press).
Weinrich, Harald (1966): Linguistik der Lüge. Heidelberg (Schneider).

Beitrag von: Anne Seitz

Redaktion: Christof Schöch