Seit Juli 2019 untersucht der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereich (SFB) 1391 Andere Ästhetik an der Universität Tübingen ästhetische Praktiken, Manifestationen und Konzepte in der Vormoderne. Gegenüber expliziten oder impliziten Autonomiekonzepten, die seit dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert kursieren, nimmt er alternative ästhetische Akte, Akteure und Artefakte in den Blick. Ziel ist es, hoch aktuelle ästhetische Fragestellungen von einer ‚anderen Ästhetik‘ der Vormoderne aus zu beleuchten. Methodisch orientiert sich der interdisziplinär ausgerichtete Verbund am praxeologischen Modell einer ‚anderen Ästhetik‘. Während einerseits Form- und Gestaltungswissen (z.B. Materialien, Gattungen und Traditionen) eine tragende Rolle spielen (autologische Dimension), geraten andererseits pragmatisch-historische Alltagslogiken in den Blick, die beispielsweise Adressat:innen, gesellschaftliche Kontexte und soziale Praktiken erfassen.
In der im Sommer 2023 gestarteten zweiten Förderphase widmet sich das germanistisch-romanistische Teilprojekt A03 „Reine Sprache, guter Ton – Purismus und Ästhetik des Umgangs in der frühneuzeitlichen Konversationsliteratur“ intensiv den interkulturellen Verflechtungen von Sprachnormierung und -purismus in Italien, Frankreich und Deutschland. Das Teilprojekt verfolgt die These, dass sich gerade im 16. und 17. Jahrhundert die Ideale von ‚reiner Sprache‘ und ‚gutem Ton‘ zu einer ‚Ästhetik des Umgangs‘ verknüpfen, die sich systematisch vom praxeologischen Modell des SFB 1391 aus beschreiben lässt. Zentrale ästhetische Reflexionsfigur ist das decorum, das sich etwa in Begriffen wie civilité, civilitas, sprezzatura, hônnete homme/femme u.a. ausformt. Betrachtet werden im Einzelnen 1. die Hofmann-Literatur im Stile von Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528), 2. Konversationstraktate wie Giovanni della Casas Galateo (1558), Stefano Guazzos La civil conversazione (1574) oder Nicolas Farets L’honnête homme ou l’art de plaire à la Cour (1630) sowie 3. die humanistisch geprägte Dialogliteratur in der Tradition von Erasmus’ Colloquia familiaria (1518), u.a. Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele (1644–57).

Im Rahmen der geplanten Tagung im November 2024 will das Teilprojekt seine Thesen mit der scientific community diskutieren und lädt daher alle Disziplinen, die sich mit der europäischen ‚langen‘ Frühen Neuzeit vom 16. bis ins 18. Jahrhundert befassen, zu Tagungsbeiträgen ein. Die Inhalte der Tagung sollen ausdrücklich nicht auf das Feld der Konversationsliteratur beschränkt bleiben, sondern sind vom Bestreben geleitet, die Ästhetik des Umgangs in der europäischen Frühen Neuzeit kulturell, sprachlich wie auch gattungstechnisch möglichst breit zu erfassen. Mögliche Themenkomplexe für Vorträge sind etwa:

1. Konstitutionsbedingungen: Unter welchen autologischen und heterologischen Voraussetzungen formt sich in der Frühen Neuzeit eine Verflechtung von Sprach- und Verhaltensformung aus? Wie unterscheidet sich diese von älteren (spätmittelalterlichen) Praktiken? Welche Rolle spielt dabei die zunehmende Normierung der Volkssprachen?
2. Diskurstraditionen: Welche Gattungen, Textsorten und Diskurstraditionen spielen bei der Herausbildung von ästhetischen Umgangsidealen eine zentrale Rolle? Wie gehen die jeweiligen Texte mit den ihnen zugrundeliegenden Vorbildern im Spannungsverhältnis von imitatio und aemulatio um?
3. Welche semantischen Felder bildet die Reflexionsfigur decorum aus (z.B. sprezzatura, dissimulatio artis, natura und ihre Gegenbegriffe)? Wie gestaltet sich der Zusammenhang zwischen Formung der Sprache und Formung des Verhaltens?
4. Transfer und Transformation: Welche Strategien und Operationen, welche sprach- bzw. verhaltensbezogenen Praktiken kennzeichnen die unterschiedlichen Argumentationssysteme der untersuchten Sprach- und Kulturräume? Welche interkulturellen Austauschprozesse gibt es?
5. Adressat:innen: An wen richten sich diejenigen Werke, die sich mit Sprach- und Verhaltensformung auseinandersetzen? Inwieweit korreliert dies mit den je spezifischen Voraussetzungen einzelner Kultur- und Sprachräume? Ein besonderer Schwerpunkt soll dabei auch auf dem Themenfeld ‚Gender‘ liegen: Auf welche Art und Weise sind den Sprach- und Verhaltensmodellen Geschlechterrollen eingeschrieben bzw. wie werden diese in den jeweiligen Texten verhandelt?
6. Gegenmodelle: Welche Gegenmodelle bzw. Gegenideale existieren zu den vorherrschenden Sprach- und Verhaltensidealen? Stehen einzelne Texte, Textsorten und Leitideale anderen antagonistisch gegenüber? Inwieweit greifen die Sprach- und Verhaltenslehren auf andere literarische Gattungen, etwa die frühe Romanliteratur oder essayistische Abhandlungen, aus?

Tagungssprachen sind Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Vorschläge für Vorträge (30 Minuten) erbitten wir mit einem Abstract von max. 400 Wörter und einem Kurz-CV (bis 300 Wörter) als PDF-Datei bis zum 31.1.2024 an a3@sfb1391.uni-tuebingen.de. Die Tagungsbeiträge sollen in einem eigenen Sammelband innerhalb der SFB-Reihe „Andere Ästhetik: Studien“ (De Gruyter) publiziert werden.

Beitrag von: Katharina Fezer

Redaktion: Robert Hesselbach