Wir haben die traurige Aufgabe mitteilen zu müssen, dass Wolfgang Raible am Montag, den 2. September 2024, im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Mit ihm verliert die deutsche Romanistik einen Forscher, der im besten Sinne des Wortes innovativ und prägend war und dessen Engagement für die romanistische Sprachwissenschaft in Erinnerung bleiben wird.
Wolfgang Raible, 1939 in Stuttgart geboren, besuchte das dortige humanistische Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Sein 1958 aufgenommenes Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Romanistik führte ihn nach Kiel, Innsbruck, Poitiers und Salamanca. 1965 promovierte er in Kiel mit einer gräzistischen Arbeit zum Raumbegriff in der Aristotelischen Physik, wechselte im gleichen Jahr aber zur Romanistik und ging als Assistent von Harald Weinrich an die Universität Köln. Nach der Habilitation 1971 (Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen Sprachen, Tübingen: Niemeyer 1972) war er an der Universität Bielefeld tätig. 1975 kam der Ruf an die Gesamthochschule Siegen. 1978 wechselte er an die Universität Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung 2007 lehrte und auch weit über dieses Datum hinaus aktiv am akademischen Leben des Romanischen Seminars teilnahm.
Die enge Zusammenarbeit mit Harald Weinrich, die Zeit an der Reformuniversität Bielefeld, wo Wolfgang Raible im Gründungsgremium der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft mitarbeitete, und der erste romanistische Forschungsschwerpunkt in der Textlinguistik zeigen, dass Raible sich intensiv an den damaligen Neuorientierungen der romanistischen Sprachwissenschaft beteiligte. Stichworte wären die verstärkte Hinwendung zur Theorie, aber auch die dezidierte Abkehr von bisherigen Forschungsschwerpunkten wie Etymologie, historische Grammatik oder Textedition. Die Aufbruchstimmung ist deutlich erkennbar in dem zusammen mit Elisabeth Gülich publizierten Band Linguistische Textmodelle (München: Fink 1977), der den Anspruch auf ein umfassenderes Verständnis der sprachlichen Strukturen – vor dem Hintergrund pragmatischer, semiotischer und kognitiver Überlegungen – deutlich erkennen lässt.
Der wichtigste Schritt dürfte 1985 die Einrichtung des Sonderforschungsbereichs 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ gewesen sein, die Wolfgang Raible federführend vorbereitet hatte. Die Einwerbung eines der ersten geisteswissenschaftlichen SFBs war in der damaligen Universitätslandschaft ein äußerst wichtiges Signal. Heute, im Rückblick, erscheint vieles von stringenter Logik und bestechender Einfachheit. Es kostete aber sehr viel Energie, den Gedanken von ‚Großforschung‘ auch in den Geisteswissenschaften populär zu machen und das Projekt, das ganz unterschiedliche Disziplinen vereinte, thematisch zusammenzuhalten. Wolfgang Raible hat dies als Sprecher des SFBs mit großem Engagement und bemerkenswerter Effizienz gemacht – auf der Basis des Begriffs der konzeptionellen Variation, den Peter Koch und Wulf Oesterreicher dem mediendeterministischen Denken entgegenstellten und der schnell zum Mittelpunkt der gemeinsamen Diskussionen wurde, auch wenn oder gerade weil er teilweise eher provozierend als konsensfähig wahrgenommen wurde. In diesen Diskussionen zeigte sich immer wieder Wolfgang Raibles Fähigkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Projekten auf abstrakteren, allgemeineren Ebenen klar zu benennen und so die Relevanz des interdisziplinären Ansatzes überzeugend vor Augen zu führen. Der SFB, der über die maximale Förderdauer von 12 Jahren erfolgreich lief, hat ganze Generationen von Nachwuchswissenschaftler*innen in unterschiedlichsten Bereichen, nicht nur in der Romanistik, geprägt, nicht zuletzt durch die anregende und anspruchsvolle Diskussionskultur, die man in den Plenumsveranstaltungen kennenlernte.
Neben der Arbeit im SFB entwickelte Wolfgang Raible sein Interesse an sprachtypologischen Fragestellungen weiter. Er erwarb zusätzlich eine Venia Legendi in der Allgemeinen Sprachwissenschaft und bezog auch nicht-indo-europäische Sprachen wie das Finnische oder das uto-aztekische Huichol in seine Forschungen ein, weil ihm der Blick auf weitere Sprachfamilie unerlässlich für die sprachtypologische Forschung erschien. Vor allem die gemeinsam mit Martin Haspelmath, Ekkehard König und Wulf Oesterreicher herausgegebenen Bände Language Typology and Language Universals – Sprachtypologie und sprachliche Universalien – La Typologie des langues et les universaux linguistiques in der Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (vol. 20.1-2, Berlin etc.: De Gruyter 2001) sind hier zu nennen. In einem gewissen Sinne kann man hier den Punkt ansetzen, wo sich die gräzistisch-philosophiegeschichtliche Vergangenheit und die romanistisch-linguistische Gegenwart in Wolfgang Raibles Forschungen berühren. Seine profunde Kenntnis der unterschiedlichen Traditionen des Sprachdenkens, von Aristoteles über die mittelalterliche Scholastik bis zu Karl Bühler oder Roman Jakobson, ermöglichte ihm, mit diesem Handbuch die Spannung zwischen den empirisch-deskriptiven und theoretisch-universalistischen Richtungen in der Sprachtypologie produktiv weiterzuführen. In der Monographie Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungen zwischen Aggregation und Integration (Heidelberg: Winter 1992) entwickelte Raible dann unter Bezugnahme auf Gedanken des Kölner Universalienprojekts (UNITYP) einen sprachvergleichenden Ansatz, für den die Herleitung des Tertiums, des den Vergleich überhaupt erst ermöglichenden ‚Dritten‘, zur eigentlichen Herausforderung wurde. Erst das Nachdenken über die Funktionen sprachlicher Kommunikation und die sich daran anschließenden sprachlichen Strukturbildungen und erst das Nachdenken über die Bedingungen unseres Nachdenkens über diesen Zusammenhang können, so Raible, eine verlässliche Basis für die linguistische Forschung abgeben. Vielleicht wird an dieser Stelle auch noch einmal deutlich, dass es ihm auch in den Anfangsjahren nicht darum ging, die traditionellen Forschungsschwerpunkte der Romanistik pauschal zurückzuweisen und ‚Synchronie‘ als neues Losungswort auszugeben. Es ging vielmehr darum, das theoretische Denken an die erste Stelle zu setzen, zum einen die Sprachtheorie – mit strukturalistisch-funktionalistischer Färbung –, vor allem aber die Epistemologie, wo sich Wissenschaftstheorie und kognitivistische Überlegungen zu den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten fruchtbar ergänzten. Als ein Beispiel für dieses epistemisch ‚aufgeklärte‘ Denken sei das semiotisch-semantische „Fünfeck“ erwähnt („Einleitung“, in Stimm, Helmut & Raible, Wolfgang (eds.): Zur Semantik des Französischen, Wiesbaden: Steiner 1983, S. 1-24). Peter Koch und Andreas Blank haben gezeigt, wie die hier formulierten Erkenntnisse zum Verhältnis von einzelsprachlichem Signifikat und enzyklopädischem Designat eine Annäherung an den Bedeutungswandel ermöglicht, bei der das Historisch-Einzelsprachliche nicht unter die Räder eines undifferenziert Kognitivistischen geraten muss.
Noch viel wäre zu sagen, vor allem zu Raibles Engagement für die Kreolistik. Die Genese dieser Sprachen und Varietäten in Situationen der Mehrsprachigkeit und des kolonial geprägten Sprachkontakts war für ihn ein eminent wichtiges Feld für die Überprüfung zentraler Konzepte seines Sprachdenkens. Wiederum standen die kognitiven und funktionalen Dimensionen des Sprachlichen im Vordergrund, insbesondere die Frage, wie grammatische Subsysteme wie Tempus oder Aspekt unter den besonderen Bedingungen dieser von maximaler sprachlicher Heterogenität gekennzeichneten Situationen emergieren und weiter grammatikalisiert werden. Auch die Forschungen zum Medienwandel, die noch nach dem Ende des SFB 321 weitergingen, oder sein Interesse für die Schnittstelle zwischen Zeichentheorie und Genforschung müssten noch genauer weiterverfolgt werden.
Zu erwähnen sind abschließend auch die Ehrungen, die Wolfgang Raible erhielt. 1986 wurde er als ordentliches Mitglied in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen. 1990 erhielt er den Landesforschungspreis Baden-Württemberg, 1992 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis. 2002 wurde ihm die Werner Heisenberg-Medaille der Alexander von Humboldt-Stiftung verliehen. Wichtiger als diese Ehrungen waren Wolfgang Raible sicher aber seine Erfolge in der Nachwuchsförderung. Seine Homepage zeigt, wie stolz er auf die große Zahl von Dissertationen und Habilitationen war, die er erfolgreich betreut hatte. Der Stolz galt nicht ihm selbst – es war sehr schwer, Wolfgang Raible davon zu überzeugen, dass auch er selbst einmal im Mittelpunkt stehen sollte, und wir Schülerinnen und Schüler mussten uns Einiges überlegen, um ihn, den bekennenden Gegner von Festschriften, ehren zu können. Was für ihn entscheidend war, waren die Erfolge derjenigen, die er gefördert hatte, das forschende Netzwerk, das er von Freiburg aus in der bundesdeutschen geisteswissenschaftlichen Forschung aufbauen konnte und das seine Arbeit und sein Engagement weiterführte und weiterführen wird.

Daniel Jacob, Sibylle Kriegel, Ralph Ludwig, Susanne Michaelis, Stefan Pfänder und Maria Selig

Beitrag von: Maria Selig

Redaktion: Robert Hesselbach