Stadt: Konstanz

Frist: 2024-12-31

Beginn: 2025-09-22

Ende: 2025-09-25

URL: https://www.romanistiktag.de/xxxix-romanistiktag/sektionen/sektion-9/

(In-)Konsistenzen. Textbegriff und Gattung im digitalen Transfer

Sektion 9 des 39. Romanistiktages: Konstanz und Wandel. Literatur- und Kulturwissenschaft
PD Dr. Sven Thorsten Kilian (Universität Stuttgart)
Prof. Dr. Kirsten Dickhaut (Universität Stuttgart)

Die Literaturwissenschaft kommt in ihrer maßgeblich philologischen und hermeneutischen Prägung nicht umhin, ihre Gegenstände und mithin ihre Textbegriffe zu explizieren. Selten jedoch werden diese in ihrer Problematik auch unmittelbar reflektiert und kontrovers diskutiert – sicherlich auch deshalb, weil eine historisch und gattungstheoretisch präzise methodologische (Selbst-)Reflexion der verwendeten Textbegriffe im Rahmen der üblichen Einzelstudien kaum zu leisten ist. Darüber hinaus lässt sich die angesprochene Problematik auf die Frage hin zuspitzen, inwieweit unser Fach bereit ist, die weithin akzeptierten Konzepte der Originalität und des ästhetischen Wertes der Einzeltexte, ihrer auktorialen, epochalen oder poetologischen Repräsentativität und ihrer literaturgeschichtlichen und kanonischen Stellung zu prekarisieren. Die Sektion lädt zum Austausch über die Konfiguration von Textbegriff, Relevanz der Digitalisierung und Methodologie ein, die vor dem Hintergrund aktueller disziplinärer Entwicklungen und Herausforderungen dringend notwendig ist und die es ermöglicht, Gattungsparameter in ihren Konsistenzen und Inkonsistenzen im digitalen Transfer zu erfassen.

Bisher ist eine akzentuierte Differenzierung und Parzellierung von Texten im Digitalen zu beobachten, womit zugleich eine Dynamisierung von Gattungen, Implikationen und damit eine Aktivierung der Rezeption deutlich wird. Bemerkenswert ist, dass der Transfer vom Analogen ins Digitale zwar mit großem und zum Teil mit größtmöglichem Aufwand betrieben wird, dass jedoch zugleich die Annahme impliziert ist – nimmt man etwa das Beispiel einer digitalen Edition oder einer thematischen Datenbank –, dass durch Annotationen und durch intuitive Benutzbarkeit digitalisierter Darstellungen der Transfer zugleich weitgehend reibungslos passiert und der Text ‚übersetzt‘ werden kann. Dabei – und das wäre ein wichtiges Anliegen unserer Sektion – sind gerade die Inkonsistenzen im Transfer zwischen den unterschiedlichen Modi produktiv, weil sie zeigen, was sich möglicherweise für das Digitale sperrt und was ggf. erst aufgrund des Transfers sichtbar und erkennbar wird. Wechselseitig Lücken zu identifizieren, zu benennen und als produktive Leerstellen zu nutzen, ist ein weiterführendes Ziel unseres geplanten Austauschs zwischen den romanistischen Literaturwissenschaften. Uns erscheint dabei die Prämisse, dass sich Textbegriff und literaturwissenschaftliche Methodik wechselseitig epistemisch bedingen, in zwei akuten – und selbstverständlich zu korrelierenden – Aspekten von besonderer Relevanz zu sein:

Zum einen betrachten die Literaturwissenschaften Text in der Regel weiterhin als in sich geschlossenes Wortkunstwerk und schreiben ihm damit einen entscheidenden (Mehr-)Wert zu, der sich in seiner Verarbeitung als beliebig segmentierbare Datenmasse nicht abbilden lässt. Zu diskutieren wäre in dieser Hinsicht, welche Bedeutung diese ästhetischen Vorannahmen in der aktuellen Forschung haben können, denn der digitale Wandel setzt auf diesem Gebiet schneller Maßstäbe als die fachliche Debatte um die Historisierung von Literaturbegriffen und ihrer Ästhetiken. Vor diesem Hintergrund liegen bereits seit Längerem Fragen der kanonischen Öffnung im Trend, die wir in Bezug auf die Fachtradition in ihren Möglichkeiten und Grenzen gerade auch vor dem technologischen Hintergrund gemeinsam eruieren wollen.

Zum anderen zeitigen die Methoden der Digital Humanities selbst, die in der Literaturwissenschaft vor allem auf Quantifizierung, Visualisierung und Systematisierung beruhen, konzeptuelle Effekte, deren Konsequenzen – auch wenn die Relativierung begrifflicher Ansprüche in den meisten der einschlägigen Studien zum guten Ton der Prolegomena gehören – auf einer umfassenderen fachlichen Ebene kaum ausreichend verhandelt werden. Angesichts einer unüberschaubaren Landschaft digitalisierter literarischer Korpora, deren Konstitution sich oftmals völlig unbehelligt von den Debatten literaturhistorischer Forschung vollzieht, oder einer jenseits der engsten Fachzirkel damit einhergehenden Nivellierung von Ergebnissen der Textkritik und der Begriffs- und Ideengeschichte steht mit den Möglichkeiten der Technik selbst der hermeneutische Grundwortschatz auf dem akademischen Feld zur Disposition. Ungeklärt bleibt letztlich, in welchem Maß sich diese rasant entwickelnden Archive, aber auch die Sprachmodelle selbst und die sich aus beiden ableitenden stochastischen Literaturuntersuchungen Antworten auf die ästhetischen Vorannahmen und Begriffe verschiedener Literaturtheorien geben könnten.

Die Arbeitssprachen können Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch sein. Die Beiträge können sich sowohl auf aktuelle Einzelprojekte als auch auf übergreifende methodische und theoretische Forschungsfragen beziehen. Mögliche Themen sind:

– Fragen der Auswahlkriterien und der Annotation für digitale Korpusfragen mit gattungsgeschichtlicher Problematik, etwa die Segmentierung dramatischer Texte je nach historischer Konvention (Haupt-, Neben-, Paratexte) betreffend;

– Fragen bezüglich des Begriffs von Einzeltext und Textsinn im Bereich digitaler (kritischer und unkritischer) Editionen, insbesondere auf der Grundlage heterogener Überlieferungen bzw. pluraler epitextueller Bezüge (unterschiedliche Fassungen, Kodierungen, Übersetzungen, intermediale Hybridisierungen);

– die methologische Reflexion der Möglichkeiten des digitalen Assessments bzw. der Erforschung textueller und gattungsgeschichtlicher Inkonsistenz;

– die Problematik der literaturwissenschaftlichen Nutzung von Large Language Models, insbesondere in semantischer, ästhetischer und ideologischer Hinsicht (Sensibilität der Modelle für rhetorische und hermeneutische Fragen);

– die Strukturierung und Annotation (intermedialer) Archive, Fragen der der Generierung von Metadaten bzw. der zweckgebundenen Nutzung stochastischer Modelle und (unspezifischer oder spezifizierter) Textgeneratoren (z.B. Retrieval Augmented Generation);

– Fragen des Einsatzes generativer KI zur Visualisierung historischer Texte, die etwa im Falle von Ekphrasis Lücken im Text identifizierbar machen oder räumliche Dimensionen erfahrbar.

Wir freuen uns auf Beitragsvorschläge im Umfang von max. 1000 Zeichen (mit Leerzeichen), bitte bis zum 31. Dezember 2024 an:
sven-thorsten.kilian@ts.uni-stuttgart.de

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Beitrag von: Sven Thorsten Kilian

Redaktion: Robert Hesselbach