Warten im Mittelalter – Dimensionen eines sozialen Phänomens

Warten scheint allgegenwärtig und ein höchst ambivalentes Phänomen zu sein. Zu warten widerstrebt unseren oft eng getakteten Plänen und ist doch unausweichlich; gleichzeitig wird mußevolles Warten mitunter zu einem Sehnsuchtsort stilisiert, der dem ‚modernen‘ Menschen jedoch unzugänglich scheint. Zudem kann Warten auch Macht über die Zeit ausdrücken: Jemanden warten zu lassen drückt Überlegenheit aus. Das Nachdenken über Warten ist also unausweichlich verbunden mit Konzeptionen von Zeitlichkeit. Die Schnelllebigkeit der Moderne scheint andere Muster des Wartens hervorzubringen, als der vormodernen Zeit zugeschrieben werden – so heißt es jedenfalls gelegentlich in der anthropologischen, soziologischen oder historischen Literatur.

Warten als Thema

Das Themenheft „Warten im Mittelalter – Dimensionen eines sozialen Phänomens“ zielt darauf, das Thema des ‚Wartens‘ aus mediävistischer Perspektive interdisziplinär zu erschließen und die Erkenntnismöglichkeiten in historischer Perspektive auszuloten. Grundsätzlich gilt dabei, dass Wartezeiten auf die eine oder andere Weise in Quellen Niederschlag gefunden haben müssen, wenn wir heute darüber nachdenken wollen. Dabei ist es eine Frage der individuellen Einschätzung, ob eine Zeitspanne als ‚Wartezeit‘ empfunden wird oder nicht. Zudem muss gefragt werden, wann und weshalb entsprechende Situationen überhaupt in den Quellen erwähnt werden: Wann wurden Momente des Wartens beschrieben, reflektiert, gemalt oder anderweitig dargestellt – oder fanden gar bauhistorisch ihren Ausdruck in vormodernen ‚Warteräumen‘, etwa am Hof? Warten hat dabei grundsätzlich zwei Dimensionen: Es kann eine intentionale zeitliche Verzögerung einer Handlung sein (und damit eine gezielte Strategie des Abwartens) oder eine von außen auferlegte Unterbrechung, bei der der/die Wartende keinen oder wenig Einfluss auf das Geschehen hat.
Um das Thema analytisch handhabbar zu machen, braucht es klare Parameter, auf die mögliche Beiträge Bezug nehmen sollen:
Es lassen sich verschiedene Wartemodi unterscheiden. Manche Wartezeiten sind voraussehbar, andere treten wiederum unerwartet ein; Wartezeiten können wenige Minuten oder aber Jahre dauern, wobei das wartende Individuum davon auf ganz unterschiedliche Art betroffen sein kann. Auf manche Wartezeiten kann man sich vorbereiten und sie lassen sich durch andere Tätigkeiten überbrücken, andere wiederum zwingen zur Untätigkeit. Fragen von Zeitlichkeit und Zeiterfahrung gehören hier elementar in das Betrachtungsfeld: Eine Pause ist etwas anderes als eine Wartezeit, weil sie eingeplant wird und einem bestimmten Zweck dient.
Eng mit den Modi des Wartens verbunden ist daher der Aspekt der agency, also individueller Handlungsoptionen, der zentral für die Deutung und Bestimmung von Wartezeiten ist. Entgegen älteren Annahmen zur grundlegenden Passivität von Wartenden betont die neuere soziologische Forschung die individuellen und kollektiven Handlungsoptionen der Wartenden, die je nach Art des Wartens breit gefächert scheinen: Wartende können versuchen, die Wartezeit aktiv zu verkürzen oder sie durch andere Handlungen zu überbrücken; sie können dem Warten individuell oder in Gruppen begegnen – mitunter können Wartezeiten sogar das Fundament für das Entstehen neuer Gemeinschaften und Gruppenidentitäten sein.
Warten kann insbesondere dann ein kollektives Phänomen werden, wenn es mit einem spezifischen Ort verbunden ist, der mehrere Personen räumlich und zeitlich vereint oder mit anderen Gruppen in Kontakt bringt. Fragen der Räumlichkeit werden insbesondere dann relevant, wenn spezifische Orte Wartezeiten provozieren und mitunter in ihrer Architektur und Infrastruktur für den (längeren oder kürzeren) Aufenthalt von Personen ausgelegt werden.
Ebenfalls eng mit verschiedenen Modi und Fragen individueller oder kollektiver agency verbunden ist der Aspekt emotionaler Reaktionen auf Wartezeiten. Die Forschung hat ‚Warten‘ grundsätzlich als polyvalentes Phänomen identifiziert, das Affekte von Hoffnung, Zweifel und Unsicherheit bis hin zu Frust, Wut und Apathie umfasst – wie eine Person in einer spezifischen Situation reagiert, hängt von zahlreichen Gegebenheiten ab. Mit Blick auf solche teils individuellen, teils kulturspezifischen Reaktionen sollten sowohl die institutionellen Bedingtheiten, die Leute zum Warten bringen, als auch die jeweiligen Reaktionen, die mit dem durch das Warten bedingten Ausgeliefertsein einhergehen, untersucht werden. Nur so lässt sich verstehen, wie Menschen in ähnlichen Situationen diese unterschiedlich wahrnehmen und verschieden damit umgehen.
Als historisches Phänomen ist Warten nur durch Quellen vermittelt fassbar – hier sind Fragen der Semantik bzw. der Motivik zentral: Durch welche Worte, Haltungen oder Motive wird Warten benannt oder dargestellt? Es gilt zu unterscheiden, ob historische Personen sich selbst als wartend sehen oder dies eine Zuschreibung aus Sicht der modernen Forschung ist.

Mögliche Themen und Fragestellungen

Das geplante Themenheft soll exemplarisch das Potenzial des Themas aufzeigen, das nur durch eine interdisziplinäre Herangehensweise geschärft werden kann. Wünschenswert sind Beiträge aus der Geschichte der Philosophie und der Medizin, der Theologie, der Islamwissenschaft und Judaistik, der Sprach- und Literaturwissenschaften, der Narratologie, der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Archäologie und Bauforschung. Zentrale Fragen, die in dem angedachten Themenheft behandelt werden können, sind z.B. diese:

  • Übergreifend steht die Frage im Fokus, wann und wie Warten in speziellen Kontexten überhaupt zu einem Thema wird, das in Quellen behandelt wird.
  • Eng damit verknüpft ist die Frage, wie ‚Warten‘ in den Quellen semantisch fassbar ist: Welche Wortfelder werden genutzt, um das Phänomen zu beschreiben?
  • Inwiefern ist Warten eine individuelle oder kollektive Tätigkeit, etwa wenn Boten und Gesandte gemeinsam auf eine Audienz warten? Wann sind oder fühlen sich Wartende ausgeliefert, inwiefern können Verzögerungen durch andere Handlungen überbrückt werden?
  • Gibt es Räume/Kontexte bzw. Orte, die Wartezeiten provozieren bzw. auf Wartende ausgerichtet sind, etwa am fürstlichen Hof oder in der religiösen Liturgie? Welche Strategien gibt es, Wartezeiten gezielt zu vermeiden? Wann wird Warten-lassen oder Abwarten als politische oder militärische Taktik gezielt eingesetzt?
  • Inwiefern wird die Fähigkeit, andere warten zu lassen, als Ausdruck von Machthierarchien genutzt, oder um Probleme zu lösen und Entscheidungen vorzubereiten oder gezielt zu verzögern?
  • Wann werden Aspekte der Zeitlichkeit und der Verzögerung relevant, wann wird auf den ‚richtigen Augenblick‘ gewartet? Denkbar sind hier politische, diplomatische und militärische Kontexte, aber auch solche der medizinischen Versorgung oder des Betens.
  • Erleben Handel und Wirtschaft zum Spätmittelalter hin eine Beschleunigung, die eine größere Zeitsensibilität mit sich bringt? Ist dies auch für die zunehmend
    professionalisierten Pilgerreisen im Spätmittelalter fassbar?
  • Auf der Deutungsebene stellt sich die Frage, ob bzw. wann Warten als Problem wahrgenommen wurde oder nicht: War es für Beteiligte ‚normal‘ zu warten? Wann war der Grad ‚normalen‘, d.h. erträglichen Wartens überschritten?
  • Wie werden Wartezeiten narrativ konstruiert, welche Funktion erfüllen sie im Textgefüge? Gleiches lässt sich für in diesem Kontext geschilderte Emotionen und ihre narrative Funktion fragen.
  • Ist das wartende Innehalten Teil eines moralischen oder religiösen Tugenddiskurses? Können Warten-Können bzw. Geduld explizit positiv gewertet werden?
  • Gibt es ein eschatologisches Warten auf die Endzeit oder das Wiedererscheinen ersehnter Erlöserfiguren? Kann religiöse Kontemplation als Warten verstanden
    werden?
  • Inwiefern sind Verzögerungen ein Thema der Kunst oder Literatur? Wie lässt sich Nichtstun oder Warten überhaupt bildlich oder textlich darstellen? Wie verhält sich die Muße (otium) zum Warten?

Weitere Themen und Ansätze sind natürlich willkommen. Wir bitten um Abstracts für Beiträge von etwa 300–500 Wörtern auf Deutsch bis zum 15. November 2025, als pdf per Mail an die beiden Herausgeber (gruenbart@uni-muenster.de und cmauntel@uni-osnabrueck.de).
Bitte beachten Sie folgenden Hinweis: Das Themenheft erscheint bei Heidelberg University Publishing im Open Access unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0.

Herausgebende

Prof. Dr. Michael Grünbart (Byzantinistik, Münster)
Prof. Dr. Christoph Mauntel (Geschichte des Mittelalters, Osnabrück)

Zeitlicher Ablauf

  • Mitte Dezember 2025: Auswahl der Beiträge und Zusage an Autor:innen
  • 15. Juni 2026: Einsendung der Beiträge; Weitergabe der Beiträge in die Begutachtung
  • 8.-9. Oktober 2026: Heft-Workshop im Stil einer Autor:innenkonferenz zur Diskussion der Beiträge in Münster
  • Anfang November 2026: Abgabe der auf der Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion überarbeiteten Beiträge, Lektorat
  • Ende Februar 2027: Versand der lektorierten Texte zur letzten Prüfung
  • April 2027: Versand der Druckfahnen
  • Juni 2027: Erscheinungstermin online und im Buchhandel

Beitrag von: Marc Schäfer

Redaktion: Robert Hesselbach