Stadt: Aachen

Frist: 2015-05-31

Beginn: 2015-09-16

Ende: 2015-09-19

URL: http://www.lusitanistentag2015.rwth-aachen.de/tagung/sektionen/sektion-15/

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„Hintergrundrauschen“ oder „Schmetterlingseffekt“?
Mikro-Variation und ihre Auswirkungen auf das Diasystem des Portugiesischen*

Eines der Hauptziele der unzähligen Studien zur sprachlichen Variation der letzten Jahre war es, möglichst weitreichende Generalisierungen und Zusammenhänge in diesem Bereich festzuhalten. Die Forschung interessierte sich primär für Phänomene hoher Repräsentativität (oder solche mit hoher statistischer Signifikanz) und weniger für Fälle von „Mikro“-Variation, obwohl eine beträchtliche Anzahl solcher dokumentiert wurde. Dieses Vorgehen ist angesichts der klassischen linguistischen Fragestellungen nachvollziehbar und gerechtfertigt. In den letzten Jahren sind jedoch auch immer stärker der einzelne Sprecher als eigentlicher Akteur im Sprachwandel und die ihn umgebende Sprachgemeinschaft in den Fokus gerückt (Beckner et al. 2009). Diesen Perspektivenwechsel verdanken wir vor allem der Erkenntnis der Relevanz des kommunikativen Kontextes und der Absichten des Sprechers bei der Wahl seiner in komplexe Variations- und Wandelprozesse eingebundene Kommunikationsstrategien. Doch auch universalistische Grammatiktheorien sind in letzter Zeit dazu übergegangen, Variation solcher Art stärker zu berücksichtigen, wie etwa der Begriff des „Nano-Parameters“ zeigt (siehe z.B. Roberts 2014). Gleichzeitig haben Sprachwissenschaftler damit begonnen, das Portugiesische unter dem Blickwinkel der Theorie der komplexen dynamischen Systeme zu betrachten (Castilho 2009, Paiva & Nascimento 2011). Eine der grundlegenden Feststellungen dieser wiederum besagt, dass in solchen Systemen minimal verschiedene Ausgangsbedingungen zu stark unterschiedlichen Auswirkungen führen können, im Bereich des Sprachlichen gegebenenfalls zu Umwälzungen geradezu revolutionären Charakters. Diese Neubewertung kommunikativer „Mikro-Situationen“ stellt uns vor die Herausforderung, die Bedeutung anscheinend marginaler Phänomene von Variation und Wandel in ihrem dynamischen Potenzial neu einzuschätzen und ihre Interdependenzen in einem komplexen dynamischen System näher zu bestimmen.

Es geht uns also in dieser Sektion darum, die vielen Fälle von Phänomenen, die in ihrem Verhalten aus den Haupttendenzen einer bestimmten linguistischen Variable auszubrechen scheinen (und welche in jeder empirischen Arbeit auftreten), zu diskutieren und ihre Bedeutung für zentrale Probleme der portugiesischen Sprachwissenschaft zu hinterfragen. Es stellt sich unter anderem die Frage, ob es sich bei diesen Fällen um reine Artefakte der angewandten Methode handelt, die somit vernachlässigbar wären, oder ob sie doch fest in ein System eingebunden sind, welches wiederum grundlegender Bestandteil in der Wechselwirkung von dynamischen Systemen ist. Dabei soll auch der inhärent interdisziplinäre Charakter der Erforschung von komplexen dynamischen Systemen (Castilho 2009) als Inspiration dienen, denn oft erschwert eine zu einseitige Herangehensweise die Erkenntnis des tatsächlichen Status eines marginalen Phänomens im System.

Auf diese Weise erwarten wir beispielsweise ein besseres Verständnis von jüngeren Entwicklungen im Bereich der Phonetik und Phonologie im Großraum Lissabons uns ihrer Ausbreitung, welche mit ökonomischem und politischem Prestige in Verbindung gebracht werden können. Ein anderes Beispiel wären die Veränderungen von kommunikativen Gewohnheiten und Strategien bei Sprachkontakt, etwa bei Jugendlichen aus Gegenden mit hohem Anteil kapverdischer Immigranten, wie der Cova da Moura in Lissabon.

Wenn wir den gesamten lusophonen Sprachraum ins Auge fassen, begegnet uns ein ganzes Bündel von Variationsphänomenen, die uns vor die Frage nach einer möglichen Emanzipation von (Sub-) Normen oder tatsächlich endogenen Normen des Portugiesischen in Angola oder Mosambik stellen, welche möglicherweise (wieder Schritt für Schritt) zu neuen ‘Systemen des Portugiesischen’ führen. Schließlich dürfen auch die Auswirkungen von konkurrierenden zentrifugalen und zentripetalen Kräften nicht außer Acht gelassen werden. Solche lassen sich beispielsweise in der Diskussion um eine einheitliche brasilianische Norm beobachten, die zwar sprachpolitisch als Ideal dargestellt wird, jedoch im offensichtlichen Widerspruch zur allgegenwärtigen Variation und der Koexistenz verschiedener sprachlicher Varianten steht.

Das Ziel der Sektion ist es somit, mit einem scharfen synchronischen Blick graduelle Phänomene des Sprachwandels, die oft nur als ‘kleine Schritte’ in Erscheinung treten, sowohl zu systematisieren als auch innerhalb des gesamten lusophonen Sprachraums zu modellieren. Aus diesem Grund sind gleichermaßen theoretische, empirische und interdisziplinäre Beiträge herzlich willkommen, idealerweise in Kombination. Wir möchten insbesondere Nachwuchswissenschaftler dazu ermuntern, sich mit eigenen Beiträgen in die Diskussion miteinzuschalten.

Für eine portugiesische Version der nachfolgenden Sektionsbeschreibung cf. versão em português:
http://www.lusitanistentag2015.rwth-aachen.de/pt/congresso/seccoes/seccao-15/*

Bibliographie
Beckner, C., Blythe, R., Bybee, J., Christiansen, M. H., Croft, W.; Ellis, N. C.; Holland, J.; Ke, J., Larsen-Freeman, D., Schoenemann, T. 2009. Language is a complex adaptive system: position paper. Language Learning, v. 59, supplement 1, s.1-26.
Castilho, A. T. 2009. An approach to language as a complex system. In: Ataliba T. de Castilho. (Hg..). História do Português Paulista. 1a.ed.: Campinas, s. 119-136.
Paiva, V.L.M.O.; Nascimento, M. Hgg. 2011. Sistemas Adaptativos Complexos: lingua(gem) e Aprendizagem. Campinas: Pontes.
Roberts, I. 2014. Syntactic change. In: A. Carnie, Y. Sato & D. Siddiqi. The Routledge Handbook of Syntax. London: Routledge, s. 391-408.

Sektionsleiter
David Paul Gerards (Zürich)
Kontakt: davidpaul.gerards(at).uzh.ch

Benjamin Meisnitzer (Mainz)
Kontakt: bmeisnit(at)uni-mainz.de

Albert Wall (Zürich)
Kontakt: albert.wall(at)uzh.ch

Sektionsgäste
Prof. Dr. Martin Becker (Köln), Ronny Beckert (Heidelberg), Prof. Dr. Ataliba de Castilho (S. Paulo), Dr. Anja Hennemann (Potsdam), Prof. Dr. Johannes Kabatek (Zürich), Dr. Christina Märzhäuser (München), Prof. Dr. Telmo Móia (Lissabon), PD Dr. Carolin Patzelt (Bochum), PD Dr. Barbara Schäfer-Prieß (München)

Beitrag von: David Paul Gerards

Redaktion: Reto Zöllner