Stadt: Augsburg

Frist: 2020-12-31

Beginn: 2021-10-04

Ende: 2021-10-07

URL: http://deutscher-romanistenverband.de/romanistentag/

Sektionsleitung: Beatrice Schuchardt (Universität Münster), Karen Struve (CAU Kiel), Juliane Tauchnitz (Universität Leipzig)

Geschichten der Migration sind Geschichten in und über Bewegung. Sie durchmessen kulturhistorische Räume, die von sozialen Auf- und Abstiegen, soziokulturellen Ein- und Ausgrenzungen und Prozessen der Trans- und Hyperkulturation erzählen. Sie übersetzen diese Phänomene in multimediale Bildwelten und beschreiben und beschreiten so Achsen, die nicht nur kultursemantische Pole verbinden, sondern sich überlagern, raum-zeitlich beeinflussen und generieren. Die Sektion perspektiviert die bestehende Forschung über die Wechselwirkungen derartiger migratorischer Prozesse noch einmal anders, indem sie zwei Dimensionen der Migration in Zusammenhang stellt, die die Verdichtung solcher ‚Narrative‘ als Geflecht relationaler Denkfiguren und -strategien sichtbar machen: Achsen und Spektren.

Achsen ermöglichen es, Narrationen der Migration in ihren Aus-Richtungen oder vektoriellen Dynamiken (Ette) zu beschreiben. Durch das Wandeln (im doppelten Sinne) der Menschen bringen Achsen erstens Orte in einen Zusammenhang und gehen zweitens über reine Binde-Funktionen zwischen Orten oder Subjektpositionen hinaus, indem sie selbstreflexiv das durch migratorische Bewegungen verursachte Entstehen von Räumen markieren. Drittens verschiebt Migration Achsen ebenso wie sie immer auch Grenzen überschreitet und deplatziert; sie dehnt spatiale wie temporale Kategorien, verengt oder bricht sie zuweilen sogar derart auf, dass sich ihre Geschichten von außertextlichen Referenzen zu lösen scheinen. Achsen können Bewegungen aus kultursemantischer wie -semiotischer Sicht (Lotman) bestimmen. Sie eröffnen Räume für Narrationen zwischen Generationen, in denen Migrationserfahrungen tradiert und durchaus auch sublimiert gespeichert werden. In den Erzählungen überlagern sich horizontale Achsen zu einem komplexen Muster, sodass in einer vertikalen Perspektive historische Abdrücke im Raum, spatiale Konnotationen von Zeiterleben und damit auch spezifische Chronotopoi (Bachtin, Foucault) entstehen. Zudem überlappen sich Raumachsen mit Farbsemantiken, Affektsemantiken mit Migrationsbewegungen, Blickachsen mit Erinnerungserzählungen. Formal-ästhetisch bringt diese achsenbezogene Komplexität etwa Multimodalität und -perspektivik hervor, eine intermittierende Fokalisierung oder hybride Formen von (Hyper)Texten und Genres, die in klassischen wie ‚neuen Medien‘ anders lesbar werden.

Spektren wiederum legen durch ihre Doppeldeutigkeit als Skalen und bildhafte Gespenster einen Schwerpunkt auf vertikale Verschränkungen von Geschichte(n), Genealogien und Affekten. Spektren (spectres) akzentuieren Phantasmen, die das Subjekt nicht loslassen, die in und mit ihm getragen werden (Mbembe, Fanon). Sie sind Geister der Hoffnung, Verzweiflung, Nostalgie, Rache oder Angst, die als sublimierte und/oder kulturell kodierte Kulturtechniken von Geschichtserzählungen auftauchen. Damit legen sie eine raumerzeugende, quer zu National- und Familiengeschichten stehende und nicht zuletzt narrative Wirkmacht offen (vgl. Hall/du Gay). Diese Geister sind revenants, Wiederkehrende, die (koloniale) Vergangenheit und (postkoloniale) Gegenwart koppeln. Die spektralen Verknüpfungen sind dabei in der Innenperspektive von und Außenperspektive auf MigrantInnen einerseits postkolonial-migratorische Figuren des Verdrängten, Un-heimlichen, Traumatischen, wie Bauman dies in Angst vor den anderen (2016) zeigt. Andererseits weisen sie neben der kollektiven Vergangenheit zugleich in die Zukunft (Mbembe).

  • Die Sektion exploriert die Potenziale und Grenzen der Perspektivierung von Achsen und (im doppelten Sinne) Spektren für eine Analyse der komplexen Migrationsnarrationen in franko-, hispano- und italophonen Literaturen und Medien gerade des 21. Jahrhunderts.

Das Phänomen der Achsen und Spektren in Migrationsnarrationen zeigt sich in neueren (literarischen) Texten ‚postkolonialer Literaturen‘ franko-, italo- und hispanophoner Provenienz. Beispielhaft hierfür sind Le livre d’Emma (2001) von Marie-Célie Agnant und die über zerreibendes Suchen motivierten Romane Boualem Sansals (Harraga, 2005 oder Le village de l’Allemand, 2008), das Delirieren in Gegenwart und Vergangenheit des Verre-cassé (Alain Mabanckou 2005) wie auch das von Spektren der Vergangenheit durchdrungene Hôtel du Bon Plaisir Raphaël Confiants (2009). Ausgerechnet an einem Ort der Immobilität, nämlich einer Gefängniszelle, tauchen die Geister der Ahnen in Wilfried N’Sondés Le cœur des enfants léopards (2007) auf und suchen die Gespenster der Familienmigration den Protagonisten von Jean-Paul Dubois‘ Tous les hommes n‘habitent pas le monde de la même façon (2019) heim. Diese intergenerationellen spectres stehen auch hinter dem undurchsichtigen, unberechenbaren Protagonisten in Tristan Garcias Faber (2013). In Francesca Melandris Bestseller Sangue giusto (2017) erscheint der postkoloniale Migrant wie ein Geist auf der Türschwelle Italiens oder im Zentrum Roms in Igiaba Scegos Adua (2015); oder aber er ist der stumme Schelm in Andrea Camilleris Il Nipote del Negus (2010). Des Weiteren verhandelt eine Reihe neuerer spanischer Filme im Zuge der Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen zwischen Europa, subsaharischen Regionen und dem Maghreb spektrale Dimensionen im Aufeinanderprallen von Figuren, Kulturen, (traumatischen) Geschichten oder kartographischen Verzerrungen, wodurch Filme wie Retorno a Hansala (Gutiérrez 2008) oder 14 kilómetros (Olivares 2007) Verschiebungen in Raumkonstellationen erzeugen; im Falle von 14 kilómetros geschieht dies über farbsemantische Neukodierungen, die geopolitisch-hegemoniale Muster zum Vorschein und ins Wanken bringen.

  • In der Sektion werden diskursive Verfahren und Techniken von Migrationserzählungen untersucht, die unter dem Aspekt der von ihnen entworfenen Achsen und spektralen Ambiguitäten Störpotentiale offenlegen, die eine Grammatik des Ungleichgewichts schaffen (Deleuze) und so neue Arten von Erzählung(en) kreieren.

Die Sektionssprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch.

Abstracts für Sektionsbeiträge (max. 250 Wörter) werden zusammen mit einer kurzen Bio-Bibliographie (ebenfalls max. 250 Wörter) bis zum 31. Dezember 2020 erbeten an schuchardt@uni-muenster.de.

Beitrag von: Beatrice Schuchardt

Redaktion: Robert Hesselbach