Programm:

28. November 2024
Raum 5. 333

9:00-9:30 Jörg Robert / Jörn Steigerwald
Das christliche Wunderbare in der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit

9:30-10:30 Gerhard Regn
Rationale Begründung und rezeptionsästhetischer Effekt: Rechtfertigungsmuster des christlichen Wunderbaren in Tassos Gerusalemme Liberata

10:30-10:45 Kaffeepause

10:45-11:45 Florian Mehltretter
Letzte Entschärfungen? Das Wunderbare in Tassos Gerusalemme conquistata

11:45-12:45 David Nelting
Das christliche Wunderbare als Herausforderung mimetischer Dichtung – Bemerkungen zu Torquato Tassos Epentheorie

12:45-14:00 Mittagspause

14:00-15:00 Gudrun Bamberger
Legitimationen des christlichen Wunderbaren im Fortunatus

15:00-16:00 Rogier Gerrits
Peindre les affaires de la terre au ciel. Das merveilleux chrétien und das Wunder von Kairo in Les Tragiques (1616) von Agrippa d‘Aubigné.

16:00-16:15 Kaffeepause

16:15-17:15 Hendrik Schlieper
“aller Welt zum Staunen”: Zeichen und Wunder in Calderóns La devoción de la cruz

17:15-18:15 Björn Quarrying
“Betwixt Astraea and the Scorpion Sign”: The Elusive Miracles of Divine Allegoresis in Milton’s Paradise Lost

Gemeinsames Abendessen

29. November 2024
Raum 0.224

8:30-9:30 Jörn Steigerwald
Im Auftrag des Herrn: zu Molières Dom Juan

9:30-10:30 Kirsten Dickhaut
Katabasis und Anabasis als Strategien der Legitimation des christlich Wunderbaren in Molières Psyché

10:30-10:45 Kaffeepause

10:14-11:45 Astrid Dröse
Das christlich Wunderbare auf der Opernbühne um 1700

11:45-12:45 Nicolas Detering
“Verklärte Schönheit”: Zur Poetik des Transfigurationswunders in Klopstocks Messias

12:45-13:45 Jörg Robert
Das christliche Wunderbare im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Phantastik und Phantasmagorie in Goethes Faust

13:45 Abschluss und gemeinsames Mittagessen

Das ‚christliche Wunderbare‘ (‚merveilleux chrétien‘/ ‚meraviglioso cristiano‘) ist ein zentrales, dabei vielfach umstrittenes und umkämpftes Konzept in der europäischen Poetik und Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit, das kanonische Werke wie Torquato Tassos Gerusalemme liberata, John Miltons Paradise lost oder Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias kennzeichnet. Trotz seiner Prominenz im poetologischen Diskurs zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert (v.a. im Kontext der Aristoteles-Rezeption) sind die konkreten literarischen Modellierungen des ‚christlichen Wunderbaren‘, ihr Verhältnis zur poetologischen Debatte auf der einen (autologische Dimension) und zu den religiösen Praktiken bzw. theologischen Diskursen auf der anderen Seite (heterologische Dimension) nur punktuell erforscht worden. Diese Doppelspannung der literarischen Praktiken des christlichen Wunderbaren soll im Mittelpunkt der Tagung stehen. Wir verstehen das ‚christliche Wunderbare‘ ausgehend von seinen literarischen Modellierungen als eine ‚ästhetische Reflexionsfigur‘, an der sich autologische (d.h. poetologische) und heterologische (d.h. religiöse bzw. theologische) Fragen kristallisieren. Indem wir das ‚christliche Wunderbare‘ vom ‚christlichen Wunder‘ unterscheiden, weisen wir es als Grenzphänomen zwischen Dichtung und Theologie aus, das es in seiner Spezifik stets aufs Neue zu bestimmen gilt. Dies gilt umso mehr, als mit dem Beginn der Reformation und späterhin der katholischen Reform das ‚Wunder‘ selbst zu einem vielschichtigen theologischen Problem wird, da es z.B. je nach Konfession anders gefasst wird und entsprechend andere Legitimationsstrategien hervorbringt. Des Weiteren ist die Differenz zwischen dem ‚christlichen Wunderbaren‘ und dem ‚Wunderbaren‘ der Dichtung insgesamt zu bedenken; das ‚christliche Wunderbare‘ wird wahlweise zum Idealfall oder, ganz im Gegenteil, zum Problemfall des ‚Wunderbaren‘, insofern etwa die Darstellung des Übernatürlichen oder gar Göttlichen die Grenzen der Glaubwürdigkeit, der Wahrscheinlichkeit und der religiösen Lizenzen überschreitet. Die Behandlung des ‚christlichen Wunderbaren‘ in der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit lässt sich, so unsere leitende Überlegung, in drei systematisch zu unterscheidende Formen der Reflexion einteilen, die keineswegs als historische Sukzession zu verstehen sind und auch nicht strikt voneinander getrennt werden können, sondern im Gegenteil spezifische Konfigurationen ausbilden:
1. Die Modellierungen des ‚christlichen Wunderbaren‘ berühren die Frage, welche ‚christlichen Wunder‘ in der Dichtung auf welche Weise zur Darstellung gebracht werden können oder dürfen, d.h. sie führen z.B. im Sinne einer theoriegeleiteten poetischen Praxis vor Augen, wie die Allmacht und / oder Größe Gottes sinnlich erfahrbar werden kann oder sie setzen das Walten Gottes sowie seiner Engel, aber natürlich auch das Wirken Satans und seiner Teufel aktiv in den jeweiligen Handlungen um. Die von Gott erschaffenen Reliefs, die der Jenseits-wanderer Dante in den Gesängen X-XII der Purgatorio-Cantica der Divina Commedia erblickt, ist ein prominentes Beispiel für die erste Praxis, der poetische Inszenierung der Handlungen von Engeln und Teufeln in Tassos Gerusalemme liberata oder in Miltons Paradise lost sind je eigene Beispiele für die zweite Praxis. Mindestens diskussionswürdig ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob das ‚christliche Wunderbare‘ notwendigerweise an die Gattung des Epos gebunden ist oder ob es auch die Möglichkeit der theatralen Modellierung gibt, wobei genauer zwi-schen rein dramatischen und musiktheatralischen Modellierungen unterschieden werden müsste, was bislang, unseres Kenntnisstandes nach, noch nicht verfolgt wurde. Zu fragen wäre z.B., ob Fausts Rettung am Ende von Goethes Faust II nicht nur auf dem theologischen Konzept der ‚Allerlösung‘, sondern auch auf dem poetologischen des ‚christlichen Wunderbaren‘ aufbaut.
2. Die Transformationen des ‚christlichen Wunderbaren‘ richten demgegenüber den Blick auf Umwandlungen und Evolutionen, die aus mindestens drei Gründen erfolgen können: Zunächst ist zu fragen, welche Möglichkeit, aber auch bzw. gerade welche Notwendigkeit zur Transformation des ‚christlichen Wunderbaren‘ in der Dichtung vorliegt, wenn etwa der theologische Rahmen sich ändert, sei es intrakonfessionell, etwa durch die Neuausrichtung im Zuge der Gegenreformation, oder interkonfessionell durch Zugehörigkeit zu bestimmten Konfessionskulturen: Tassos mehrfache Bearbeitungen der Gerusalemme – Gerusalemme liberata (1575/1581) und Gerusalemme conquistata (1593) – verdeutlichen die erste Herausforderung, die konfessionell je eigene Prägung von Tasso, Milton und Klopstock steht exemplarisch für die zweite Problematik ein. Hinzu kommen historische Veränderungen, die etwa je eigene Epistemen des Wissens hervorbringen oder neue, insbesondere rationalistische Diskurssysteme produzieren, die sakrale Konzepte hinterfragen oder gar zur Disposition stellen, wie die Religions-kritik der Aufklärung exemplarisch zeigt.
3. Die Legitimität des ‚christlichen Wunderbaren‘ berührt die grundsätzliche Frage, ob resp. Inwiefern Darstellungen göttlicher oder dämonischer Mächte in literarischen Texten einerseits poetologische andererseits religiös-theologische Darstellungsnormen und -lizenzen heraus-fordern. Man könnte hier von einem ‚doppelten decorum‘ sprechen, das sowohl autologische (poetologisch-literarische) als auch religiöse bzw. theologische Normen und Erwartungshorizonte betrifft. Während auf der einen Seite die Grenzen der von Aristoteles und Horaz geforder-ten Wahrscheinlichkeit berührt werden, stehen auf der anderen konfessionelle Zugehörigkeiten auf dem Spiel, die sich in unterschiedlichen Modellierungen in den literarischen Texten ausdrücken. Die Debatte zwischen Johann Christoph Gottsched und den Schweizern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger über Miltons Paradise lost, die häufig verkürzt als Debatte über das ‚Wunderbare‘ und eben nicht über das ‚christliche Wunderbare‘ gelesen wird, steht hierfür paradigmatisch ein. Zu bedenken ist hierbei jedoch auch, dass die Behandlung des ‚christlichen Wunderbaren‘ mit einem Autoritätsanspruch des Dichters / der Dichterin (im Sinne der poeta vates-Tradition) einhergehen kann, der als höchst problematisch angesehen werden kann. Diese Problematik zeigt sich bereits im Rahmen der unmittelbaren Rezeption von Dantes Divina Commedia, insofern die Frage diskutiert wird, ob Dante wirklich behaupte, dass er in der Hölle, dem Fegefeuer und dem Paradies gewesen sei oder ob hier nur eine inszenierte Präsenz vorliege, die allegorisch zu deuten sei, doch lässt sich diese Problematik auch an weiteren Beispielen verfolgen.
Die Veranstalter laden mit dem vorliegenden Kolloquium dazu ein, die Frage nach dem konzeptionellen Status und nach der Legitimität des ‚christlichen Wunderbaren‘ ausgehend von paradigmatischen literarischen Texten aus allen Gattungen zu erörtern.

28.-29. November 2024, Universität Paderborn
Organisation: Prof. Dr. Jörn Steigerwald (Paderborn) / Prof. Dr. Jörg Robert (Tübingen)

Beitrag von: Jörn Steigerwald

Redaktion: Robert Hesselbach