Stadt: Paderborn

Frist: 2025-03-21

Beginn: 2025-05-08

Ende: 2025-05-09

URL: http://go.upb.de/komparatistik

Workshop an der Universität Paderborn, 8.–9. Mai 2025

Aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts, das durch etablierte und entsprechend klar definierte Nationaltheater geprägt ist, erscheinen die europäischen Theaterkulturen der Zeit nach 1700 auf bemerkenswerte Weise offen und dynamisch, aber zugleich auch widersprüchlich und diffus, was sich anhand der drei folgenden prominenten Beispiele verdeutlichen lässt: In Paris konkurrieren seit 1716 zwei große Theater um die Gunst des Publikums, nämlich die Comédie-Française und die von Louis Riccoboni geleitete Comédie-Italienne, wobei bereits die Namen der Theaterhäuser verdeutlichen, dass hier zwei Theatertraditionen miteinander an einem Ort konkurrieren, die zwar als kulturell different gedacht werden, jedoch nicht notwendigerweise an die jeweiligen Kulturräume gebunden sein müssen. Nochmals komplexer stellt sich das Mit- und Gegeneinander von Comédie-Française und Comédie-Italienne dar, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet der Klassizist Voltaire als Hausdichter der ersten Bühne eine Reform der französischen Dramendichtung anstrebt, indem er diese an den Tragödien von William Shakespeare, insbesondere an dessen Julius Caesar, ausrichtet. Umgekehrt unternimmt der Italiener Riccoboni zunächst eine kritische Revision der französischen Komödie und dann eine umfassende Reformierung des französischen Theaters, um dieses für die eigene Gesellschaft zu reaktualisieren. Dergestalt stellt sich nicht nur die Frage, wie ein genuin italienisches Theater in Paris konzipiert wird, wenn die gewählte Dichtungssprache Französisch und eben nicht Italienisch ist, was sich auch daran zeigt, dass der französische Komödiendichter Marivaux dort seine ersten Erfolge feiert, sondern auch die Frage, wie französisch das französische Theater der Comédie-Française ist, wenn es sich an Shakespeare und nicht mehr an Corneille und / oder Racine orientiert.
In Kopenhagen etabliert zunächst 1720 der französische Theatermacher Étienne Capion das Schauspiel in Det Lille Gjethus, bevor er zusammen mit seinem Landsmann René Montaigu das Lille Grønnegade-teatret gründet, in dem wiederum vorzugsweise ins Dänische übersetzte oder dänische Komödien gespielt werden, wie dies Molières L’Avare, der dort am 23. September 1722 aufgeführt wird, oder die Komödien von Ludvig Holberg zeigen, die dort regelmäßig ihre Premieren erleben. Wenn der im Leipziger Umfeld von Johann Christoph Gottsched mit dem zivilen Klassizismus sozialisierte Dichter Johann Elias Schlegel (vgl. Süwolto / Puscher 2024) in den späten 1740er Jahren nach Kopenhagen kommt, um dort als Theaterdichter zu wirken, dann befinden sich dort vor Ort zum einen das 1747 eröffnete Kongelige Teater, das als dänisches Nationaltheater gegründet wurde, aber auch ein deutsches, ein englisches und ein französisches Theater, so dass sich die Frage stellt, inwiefern hier wirklich in Bezug auf das Kongelige Teater von einem Nationaltheater gesprochen werden kann. Damit verbunden stellt sich die weitergehende Frage, welches Verständnis Schlegel seinem Nationaltheater-Konzept zugrunde legt, wenn er in seiner berühmten Schrift über die Aufnahme des dänischen Theaters über die Möglichkeiten und Herausforderungen eines Nationaltheaters reflektiert und dies vor dem Hintergrund geschieht, dass die Begründung des dänischen Nationaltheaters vor allem in Auseinandersetzung mit dem französischen und englischen Theater der Zeit erfolgen sollte.
In Madrid schließlich gibt es nach 1700 einerseits Autoren, die die theatrale Tradition des Siglo de Oro fortschreiben und dieses durch die Anlehnung an italienische Einflüsse behutsam aktualisieren, indem sie eine comedia de magia etablieren, wobei zu beachten ist, dass diese an zwei konkurrierenden Theatern aufgeführt wird, nämlich am Teatro del Príncipe und am Teatro de la Cruz, so dass keineswegs von einer einheitlichen Konzeption ausgegangen werden kann. Andererseits protegiert der König Philipp V. nach 1700 mit den so genannten Trufaldines eine italienische Schauspieltruppe, die im Teatro de los Caños del Peral ihre Künste darbieten, was insofern von Bedeutung ist, als ebendiese Bühne der Vorgängerort des heutigen Teatro Real, d. h. der Madrider Oper ist. Nochmals komplizierter wird die Situation in der spanischen Hauptstadt dadurch, dass mit Ignacio de Luzán ein Autor auftritt, der 1737 eine französisch-neoklassizistische Poética veröffentlicht und dergestalt zum Sprachrohr der afrancesados in Spanien wird, deren eigentliche Wirkung sich – so die Forschungsmeinung bis heute – indes erst nach 1750 vollends entfaltet. Denn zu fragen ist hier zunächst einmal, was unter einer französischen bzw. einer an Frankreich orientierten Poetik zu verstehen ist, insofern das dominante Modell der französischen Tragödie die Liebestragödie bildet (vgl. Schlieper 2024), so dass weitergehend zu fragen ist, wie eine spanische Akkulturation der französischen Liebestragödie gestaltet werden kann, wie auch umgekehrt zu fragen ist, wie sich Liebestragödie und Klassizismus in der Dramentheorie und später auch in der Dramenpraxis zueinander verhalten. Italienische, spanische und französische Theaterkulturen interagieren und konkurrieren entsprechend in der spanischen Hauptstadt nach 1700 und werfen mehr als deutlich die Fragen auf, wie vor diesem Hintergrund ein dezidiert spanisches Nationaltheater entstehen kann und, damit verbunden, worin dann eigentlich das Spanische des spanischen Nationaltheaters besteht.

Der geplante Workshop baut auf diesen Beobachtungen auf und verbindet sie mit ersten Forschungsergebnissen zu den europäischen Theaterkulturen der Frühaufklärung. Zum einen lässt sich beobachten, dass die Theaterkulturen dieser Zeit als eine ZwischenSpielZeit verstanden werden können (vgl. Steigerwald / Süwolto 2022), d. h. als ein Zeitraum, in dem die betreffenden Schauplätze nicht mehr durch die Regeln und Konventionen der Dramentheorien des 17. Jahrhunderts geprägt sind; zugleich stehen diese Schauplätze noch weit vor der Herausbildung der Nationaltheater nach 1800, die Nation und Kultur notwendigerweise zusammendenken. Zum anderen zeichnen sich diese Theaterkulturen durch einen intensiven Theatertransfer aus (vgl. das gleichlautende Artes-Themenheft), der ganz konkret darin bestehen kann, fremden Schauspieltruppen eine Bühne in der eigenen Hauptstadt zu bereiten, um die eigene Theaterkultur zu bereichern, aber genauso gut konzeptionelle Auseinandersetzungen mit anderen Theaterkulturen kennt und deren Potenziale für die eigene Gegenwart fruchtbar zu machen strebt.
Vor ebendiesem Hintergrund stellen sich weitere Fragen, die sich nun allererst diskutieren lassen: Welche Bedeutung hat der immer wieder angeführte Begriff des Nationaltheaters in den jeweiligen Kontexten? Geht es um ein Theater, das für einen bestimmten Kulturraum geschaffen werden soll, und wenn ja, aufbauend auf welchen Prämissen? Oder geht es um ein Theater, das aus einem spezifischen Kulturraum heraus geschaffen wird, so dass möglicherweise die nationale Zugehörigkeit der Protagonist*innen zum entscheidenden Kriterium wird? Und welcher Wert wird der Gleichzeitigkeit differenter Theaterkulturen an einem Ort beigemessen? Inwiefern handelt es sich hierbei um strategische Maßnahmen königlicher (oder zumindest adeliger) Kultur- und Statuspolitik und worin bestehen diese genau? Aber auch umgekehrt ist zu fragen: Inwiefern bieten diese Bühnen Muster und Orientierungen für die Etablierung eigener Dramen und Dramentheorien, die wir heutzutage als Beginn der jeweiligen Nationaltheater zu lesen gewohnt sind? Und schließlich stellt sich die Frage, inwiefern die Ausrichtung an kulturell differenten Theatertraditionen dazu dienen konnte (oder möglicherweise auch: sollte), obsolet gewordene Regeln und Muster der eigenen Theaterkultur ad acta zu legen und durch eine zeitgenössische Dramatik zu ersetzen. Diese Frage stellt sich umso mehr, als sich etwa für den Schauplatz Paris die Ablösung des Staatsklassizismus seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – etwa bei Catherine Bernard und Anne-Marie Barbier – festhalten lässt, jedoch nach wie vor die Frage offenbleibt, wie sich etwa der Klassizismus eines Voltaire genau davon abgrenzen lässt (vgl. Steigerwald 2024). Wenn hingegen in Bezug auf Luzán von der Etablierung eines Neoklassizismus gesprochen wird, dann wird zum einen über das Präfix ‚Neo‘ die Frage aufgeworfen, wie sich der neue zum alten (spanischen und als solchem eigens zu bestimmenden) Klassizismus verhält, aber eben auch, wie sich etwa Luzáns zu Voltaires Klassizismus verhält, was gerade angesichts der fortdauernden Querelle des Anciens et des Modernes von Bedeutung ist. Gleiches gilt, wenn auch mit anderen Vorzeichen, für die Komödien eines Holberg oder die Tragödien eines Schlegel in Kopenhagen, wobei dessen dezidiert dänische Dramen(fragmente) Canut und Gothrika besondere Aufmerksamkeit verdienen.

Der Workshop möchte dazu einladen, anhand der drei ausgewählten, aber eben paradigmatischen Schauplätze der europäischen Theaterkulturen die Dynamiken und Umbrüche, aber auch die Revisionen und Reformbemühungen des Theaters nach 1700 genauer zu konturieren. Gewünscht sind Vorträge, die für den hier skizzierten Zugang konkrete Dramen, Dramentheorien und Dramenreflexionen in den Blick nehmen, um die vorgeschlagenen Fragestellungen aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Geplant sind im Sinne eines Workshops intensive Diskussionen der einzelnen Beiträge, so dass jeweils eine Stunde Zeit eingeplant ist (30 Minuten Vortrag / 30 Minuten Diskussion). Vorschläge (Titel und ca. halbseitige Beschreibung) werden bis zum 21. März 2025 per Mail an joern.steigerwald@uni-paderborn.de, hendrik.schlieper@uni-paderborn.de und sahra.puscher@uni-paderborn.de erbeten.

Organisation:
Prof. Dr. Jörn Steigerwald – PD Dr. Hendrik Schlieper – Sahra Puscher
Universität Paderborn
Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft

Genannte Literatur:
Leonie Süwolto / Sahra Puscher (Hg.), Johann Elias Schlegel und das Theater. Zwischen Revision und Reform, Paderborn: Brill / Fink, 2024.
Hendrik Schlieper, Liebestragödie. Genealogien einer französischen Gattung im 17. Jahrhundert, Paderborn: Brill / Fink, 2024.
Jörn Steigerwald / Leonie Süwolto (Hg.), ZwischenSpielZeit. Das Theater der Frühaufklärung (1680‒1730), Paderborn: Brill / Fink, 2022.
Themenheft Theater-Transfers. Akkulturationen des europäischen Theaters in Johann Christoph Gottscheds Deutscher Schaubühne, in: Artes 2 (2022).
Jörn Steigerwald, “Vater – Land – Liebe. Usus, Abguss und Habitus in Catherine Bernards Brutus”, in: Artes 3 (2024), S. 254–281.

Vgl. außerdem weiterführend die Projektwebseite go.upb.de/theaterkulturen

Beitrag von: Hendrik Schlieper

Redaktion: Robert Hesselbach